StartSteigende Gewalt in Äthiopiens Tigray-Region – Millionen brauchen Hilfe

Steigende Gewalt in Äthiopiens Tigray-Region – Millionen brauchen Hilfe

(www.conservo.wordpress.com)

Von Peter Helmes

Ein blutiger Krieg in Tigray

Der Konflikt um die äthiopische Region Tigray ist zu einem blutigen Krieg eskaliert. Die UN ist alarmiert: 2,3 Millionen Kinder, Frauen und Männer sind auf Hilfe angewiesen, es gibt Berichte über Massaker an der Zivilbevölkerung. Der Konflikt um die abtrünnige äthiopische Region Tigray ist schnell zu einem blutigen Krieg eskaliert. Unicef ist alarmiert: Fünf Millionen Kinder, Frauen und Männer sind auf Hilfe angewiesen, es gibt Berichte über Massaker an der Zivilbevölkerung.

Vor fast einem Jahr schickte der äthiopische Premier Abiy Ahmed Truppen in die nördliche Provinz Tigray. Mehr als ein Einsatz gegen ein paar kriminelle Elemente in der Rebellengruppe TPLF sollte das angeblich nicht werden. Aber im Sommer nahmen die Aufständischen tausende äthiopische Soldaten gefangen, und inzwischen sind sie auf dem Weg in die Hauptstadt Addis Abeba. Was sich gerade im zweitbevölkerungsreichsten Land Afrikas abspielt, ist nicht weniger als ein Bürgerkrieg.

Die Folge sind unzählige Opfer und eine humanitäre Krise, die die gesamte Region in den Abgrund reißen könnte. Als die UNO bereits im September vor einer Hungerkatastrophe warnte, reagierte Abiy Ahmed mit der Ausweisung von sieben Mitarbeitern. Die Afrikanische Union mit Sitz in Addis Abeba ist notorisch ineffektiv. Die UNO darf daher nicht aufgeben.

Äthiopien ist mit rund 110 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern der bevölkerungsreichste Binnenstaat der Welt

Mehr als 100 verschiedene Ethnien machen Äthiopien außerdem zum Vielvölkerstaat. Neben der Landessprache Amharisch gibt es mehr als 70 anerkannte Regionalsprachen. Das Land zählt zu den einflußreichsten in Afrika und liegt zudem in einer der strategisch wichtigsten Regionen der Welt – dem Horn von Afrika. Nicht zuletzt das macht die bewaffnete Auseinandersetzung in der nördlichen Region Tigray in den Augen vieler Beobachter so gefährlich.

Mehr als zwei Millionen Menschen wurden schon vertrieben und tausende getötet. Die Berichte über das Vorrücken der TPLF – „Tigray People´s Liberation Front“ / Volksbefreiungsfront Tigray“ – auf Addis Abbeba sind erschütternd. Denn diese Entwicklung wird noch mehr Leid für unschuldige Menschen bringen. Die Staaten der Region und die Afrikanische Union müssen nun dringend ihre Stimmen erheben und ein Ende dieses Konflikts fordern, bevor die Situation außer Kontrolle gerät.

Nach der Ausrufung des Notstands in Äthiopien droht dem Bürgerkriegsland nach Ansicht von Amnesty International eine humanitäre Katastrophe.

Die Notstandsregelungen seien derart umfassend und pauschal, daß sie Menschenrechtsverletzungen Tür und Tor öffneten, betonte der Amnesty-Direktor für das östliche und südliche Afrika, Muchena. Besonders gefährdet seien Menschenrechtsaktivisten, Medienschaffende, Angehörige von Minderheiten und Oppositionelle. Das menschliche Leid hat in den äthiopischen Konfliktregionen „katastrophale Ausmaße“ erreicht.

Nun stehen der regierenden Ministerpräsidenten Abiy Ahmed und dessen Reformbemühungen am Scheideweg. Mit dem 43-Jährigen, der seit April 2018 regiert, waren große Hoffnungen verknüpft – sowohl im Land selbst als auch international. Immerhin war Abiy 2019 wegen seiner Reformbemühungen und seines Einsatzes zur Lösung des Grenzkonflikts zwischen Eritrea und Äthiopien mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet worden.

Wie ist die humanitäre Situation?

Die Vereinten Nationen sind alarmiert über das Schicksal Hunderttausender notleidender Menschen in der umkämpften Tigray-Region. Die Gewalt sowie bürokratische Hürden der Zentralregierung und der regionalen Behörden behindern die humanitäre Hilfe. In Tigray mangelt es nach UN-Angaben an Lebensmitteln, Wasser und medizinischer Versorgung. Die Menschen litten an Unterernährung und Krankheiten. Die UN und Hilfsorganisationen hätten nur in einige Gebiete Tigrays humanitäre Güter liefern können. Die Zahl der erreichten Menschen sei jedoch sehr gering.

Aktuell seien etwa fünf Millionen Menschen auf Hilfe von außen angewiesen, sagte Unicef-Sprecher Rudi Tarneden im Deutschlandfunk. Viele Kinder würden sterben, wenn nicht bald gehandelt werde. Die Kriegsparteien legten eine ungeheure Rücksichtslosigkeit gegen Zivilbevölkerung und Helfer an den Tag, erklärte Tarneden weiter. So seien zuletzt Brücken, Gesundheitsstationen und Einrichtungen für die Wasserversorgung zerstört worden. Die Provinz im Norden Äthiopiens sei für Informationen und Helfende faktisch abgeriegelt.

Seit Ausbruch der Kämpfe im November 2020 wurden Tausende Zivilisten getötet, Hunderttausende Menschen innerhalb von Tigray vertrieben und mindestens 63.000 Menschen sind nach Angaben von Amnesty International (AI) in den Sudan geflohen. Insgesamt sind bereits mindestens zwölf Mitarbeiter von Hilfsorganisationen seit dem Ausbruch der Kämpfe zwischen dem äthiopischen Militär und den Kräften der TPLF-Rebellen getötet worden.

Amnesty International und andere Organisationen haben eine Reihe schwerer Menschenrechtsverletzungen dokumentiert, darunter Kriegsverbrechen und möglicherweise auch Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Außerdem gibt es laut AI zahlreiche glaubwürdige Berichte über Frauen und Mädchen, die sexueller Gewalt ausgesetzt waren – einschließlich Gruppenvergewaltigungen durch äthiopische und eritreische Soldaten.

Da die Region Tigray zwischenzeitlich von allen Kommunikationswegen abgeschnitten worden ist, sind unterschiedliche Aussagen der Zentralregierung und der TPLF nicht durch unabhängige Quellen überprüfbar.

Wie sind die Kräfteverhältnisse zwischen den Konfliktparteien?

Die äthiopische Armee gilt zwar als eine der stärksten in Afrika, doch ihre besten Kräfte kommen mithin aus Tigray. Sie haben im jahrelangen Krieg mit Eritrea, das an Tigray angrenzt, viel Erfahrung gesammelt. Die International Crisis Group schätzt, daß die paramilitärische Truppe der TPLF und lokale Milizen insgesamt über etwa 250.000 Kämpfer verfügen. Die Raketenangriffe der TPLF zeigten, daß sie „möglicherweise im Besitz schwerer Waffen, von Artillerie und Raketen ist“, sagte Tsedale Lemma, Chefredakteurin des Magazins „Addis Standard“ im Deutschlandfunk.

Ohne internationalen Druck auf einen beidseitigen Waffenstillstand und einen Verhandlungswillen könnte das einer der zerstörerischsten Kriege werden, in dem es in absehbarer Zeit keinen Sieger geben werde, sagte Journalistin Lemma.

Ist eine diplomatische Lösung möglich?

Westliche Diplomaten in Addis Abeba schätzen die Chancen auf eine friedliche Lösung gering ein, da sich zwei ebenbürtige und militärisch gut ausgerüstete Akteure gegenüberstünden. Zudem sei es das erklärte Ziel der Regierung Abiy, die TPLF zu vernichten.

Der Hintergrund des Konflikts

In Äthiopien waren nicht alle mit dem Reformkurs von Abiy Ahmed einverstanden, insbesondere Gruppen und Bevölkerungsteile, die in Folge der Politik des Ministerpräsidenten Einfluß und Macht verloren – dazu zählen auch die Eliten der Tigray, einer Volksgruppe, die in der gleichnamigen Region beheimatet ist. Die Volksbefreiungsfront von Tigray (TPLF) dominierte 28 Jahre lang die Politik Äthiopiens, fühlte sich nach der Amtsübernahme von Abiy aber zunehmend marginalisiert.

Im Juli 2018 unterzeichneten Äthiopien und Eritrea einen Friedensvertrag, der den 20 Jahre dauernden Streit zwischen den Ländern offiziell beendete. Doch nun stehen die Region und Äthiopien vor einer Zerreißprobe. Bei dem Krieg gehe es um die politische Zukunft Äthiopiens und auch um die politische Vergangenheit des Landes,

Vor wenigen Tagen hatte das Parlament den von Ministerpräsident Abiy vorgeschlagenen Notstandsregelungen zugestimmt. Sie gelten für sechs Monate und erlauben der Regierung unter anderem, das Militär einzusetzen, Personen ohne Gerichtsentscheidung zu inhaftieren und Medien aufzulösen. Das Repräsentantenhaus billigte damit eine Entscheidung der Regierung, die Ministerpräsident Abiy weitreichende Befugnisse sichert. Begründet wird die Regelung laut der staatlichen Nachrichtenagentur ENA damit, dass die Volksbefreiungsfront aus der Konfliktregion Tigray und ihre Verbündeten eine Gefahr für die Existenz und Souveränität des Landes darstellten. Die Rebellen rücken derzeit auf die Hauptstadt Addis Abeba vor.

Die UNO-Menschenrechtskommission prangert schwere Verbrechen im Konflikt um die äthiopische Provinz Tigray an

Bei der Vorstellung eines Untersuchungsberichts sagte UNO-Hochkommissarin Bachelet in Genf, der Konflikt sei von extremer Brutalität geprägt. Der Bericht spricht von möglichen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Die meisten Taten seien von den Streitkräften Äthiopiens und Eritreas begangen worden, sagte Bachelet. In jüngster Zeit mehrten sich aber auch Berichte über Menschenrechtsverletzungen durch die Anhänger der Unabhängigkeitsbewegung für Tigray. Alle Täter müssten zur Rechenschaft gezogen werden.

In der Tigray-Region kämpfen Regierungstruppen gegen die dort herrschende sogenannte Volksbefreiungsfront. In dem Konflikt wurden bereits mehrere tausend Menschen getötet. Mehr als zwei Millionen Männer, Frauen und Kinder sind auf der Flucht. Es gab Menschenrechtsverletzungen, Frauen wurden vergewaltigt, Menschen wurden getötet oder misshandelt. Viele Berichte verweisen auf irreguläre Milizen und auf die Anwesenheit eritreischer Truppen. Es ist schwierig, das zu bestätigen, wenn man nicht an Ort und Stelle ist.

Der Konflikt könnte sich auch auf andere Teile des Landes ausbreiten, in denen regionale Akteure mehr Autonomie fordern. Nach tödlichen Auseinandersetzungen mit ethnischen Minderheiten hat die Regierung in Addis Abeba einige der jüngsten Reformen wieder rückgängig gemacht und lässt Kritiker wieder festnehmen.

Zudem besteht die Gefahr, daß ein größerer Konflikt in Äthiopien auch einige der Nachbarstaaten weiter destabilisieren könnte. Direkte Nachbarn Äthiopiens sind im Osten der als zerfallen geltende Staat Somalia und im Westen die Länder Sudan und Südsudan, die ebenfalls von schweren bewaffneten Konflikten geprägt sind. Auch die Beziehung zum nördlich angrenzenden Eritrea ist trotz eines Waffenstillstandsabkommens aus dem Jahr 2018 weiterhin angespannt.

Und in dem kleinen Küstenstaat Dschibuti, der nordöstlich an Äthiopien angrenzt, haben sowohl die USA als auch China eigene Militärstützpunkte. Von dort sind es nur wenige Seemeilen bis zur Küste des Bürgerkriegslandes Jemen.

Die Region Äthiopien könnte mal wieder ein Herd für neue internationale Konflikte werden. Und die Welt scheint wegzusehen.

Quellen: Eigene Recherchen, Dlf

www.conservo.wordpress.com     8.11.2021

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