Von Gerd Schultze-Rhonhof, Generalmajor a. D.
Anlass:
31.1.2022: Ein SPD-Parteikonvent stellt fest: „Die jetzige Eskalation geht von Russland ( RU ) aus.”
Was ist der wirkliche Anfang der Eskalation?
– Eine nicht eingehaltene Zusage der Amerikaner und der NATO
– zum Verzicht auf eine NATO-Osterweiterung und das seit 2008
– andauernde Drängen der USA, die Ukraine in die NATO aufzunehmen.
Die NATO Vorgeschichte:
8. Feb 1990:
US Außenminister Baker verspricht dem sowjetischen Generalsekretär Gorbatschow, dass sich die NATO nicht nach Osten ausdehnt.
17. Mai 1990:
NATO Generalssekretär Wörner bestätigt in einer Rede, dass NATO nicht beabsichtigt, sich nach Osten auszudehnen.
18. Mai 1990:
Baker versichert Gorbatschow, man sei nicht mehr daran interessiert, Osteuropa von der Sowjetunion zu trennen.
Nach 18.5.1992:
Der ehem. Außenminister Genscher sagt in einem Fernsehinterview ( 1. Progr. ), vor US Außenminister Baker stehend, in das Mikrophon: „Wir waren uns einig, dass nicht die Absicht besteht, das NATO-Verteidigungsgebiet auszudehnen nach Osten.“ ( heute noch bei YouTube einzusehen )
Frühjahr 1993:
US Präsident Clinton bestätigt, dass dies auch seiner Auffassung entspricht.
1997:
Der Wandel der NATO-Politik in dieser Hinsicht wird ab 1997 durch die tschechisch geborene US Außenministerin Madeleine Albright eingeleitet und durchgesetzt.
Bisher: sind 12 Osteuropa-Staaten der NATO beigetreten.
Ukraine ( UKR ) Vorgeschichte:
20. Jan 1991:
93% der Krimbewohnter votieren bei einem Referendum für eine Wiederbegründung der „Autonomen Sowjetrepublik Krim“ als Teil der Sowjetunion.
12. Feb 1991:
Der Oberste Sowjet der UKR beschließt aber den Verbleib der Krim innerhalb der UKR.
5. Dez 1994:
Budapester Memorandum: Die UKR verzichtet auf seine Atomwaffen und liefert sie in RU ab. RU garantiert dafür die bestehenden Grenzen der UKR.
6. März 2014:
Das Lokalparlament der Krim spricht sich erstmals für einen Anschluss an RU aus.
16.März 2014:
Krim: Referendum über Status der Krim: 97% für Anschluss bei 83 % Wahlbeteiligung.
21.März 2014:
RU schließt mit der Krimeinen offiziellen Staatsvertrag über den Anschluss der Krim an RU.
Ab 2013:
Die UKR wird mit US- und EU-Unterstützung aus der russ. Wirtschaftszone herausgelöst.
Ende 2013:
Die EU bietet der UKR einen Assoziierungsvertrag an. Staatspräs. Janukowytsch befürchtet, dass die UKR der Anpassung an die EU wirtschaftlich nicht gewachsen sein wird ( ähnlich DDR zu BRD ) und fordert Milliarden-Anpassungs-Beihilfe von der EU.
EU lehnt ab. Gleichzeitig bietet RU e. Milliarden–Kredit und Rabatt auf Gaslieferungen. Janukowytsch will deshalb die Unterzeichnung des EU-Vertrags um 1 Jahr verschieben.
Ausbruch der Maydan-Unruhen. J. wird gestürzt und durch westorientierten Petro Poroschenko ersetzt.
20.Feb 2014:
Massenunruhe auf dem Maidan-Platz in Kiew. Fremdländische Söldner schießen auf Demonstranten und Polizisten und heizen internationale Empörung an. Poroschenko will UKR an EU heranführen. Die ostukr. Gebiete Donezk und Lugansk wollen Russlandbindung behalten, und dortige Separatisten versuchen, ihre Gebiete von der UKR zu lösen.
7. und 28. Apr 2014:
Erst der Oblast Donezk mit 75 % russischsprachiger Bevölkerung, dann der Oblast Lugansk mit 69 % russischsprachiger Bevölkerung, erklären sich zu selbständigen Volksrepubliken. Seitdem dortiger Bürgerkrieg mit russischer und ukrainischer Einmischung.
2014 bis heute …
wurden über 20 erfolglose Waffenstillstandsvereinbarungen zwischen ukr. Zentralregierung und Separatisten geschlossen.
5. Sep 2014:
Im Minsker Protokoll ( Minsk I ) erfolgt Absichtserklärung zwischen RU, UKR, OSZE und Vertretern der Separatisten in Donezk und Lugansk zu einer Waffenruhe, zu einem Sonderstatus für Donezk und Lugansk und zum Abzug fremder Söldner.
12. Feb 2015:
Mit dem Minsker Abkommen ( Minsk II ) schließen RU, UKR, Frankreich und Deutschland ein Abkommen über Deeskalation und die Konkretisierung der Minsk I-Absprachen, u. a. ein Gesetz über den Sonderstatus von Donezk und Lugansk zu schaffen.
Jan. 2018:
Kiew erlässt ein Reintegrationsgesetz für Lugansk und Donezk, was der Präsident der „Volksrepublik“ Donezk Sachartschenko als ein Kriegsrecht für die abtrünnige Region bewertet. Er erklärt daraufhin das Minsker Abkommen für gegenstandslos.
2021/22:
Der UKR Präsident Selenskyj und sein Außenminister fordern wiederholt Waffenlieferungen von Deutschland. Die Bundesregierungen lehnen ab.
8. Feb. 2022:
UKR Präsident Selenskyj sagt ein geplantes Gespräch mit der deutschen Außenministerin Baerbock während deren Staatsbesuch in der UKR aus Verärgerung ab.
US Vorgeschichte:
Apr. 2008:
Die US-Delegation schlägt auf dem Bukarester NATO-Gipfel auf Anstoß von US-Präsident George W. Bush vor, Georgien und die Ukraine in die NATO aufzunehmen. ( Ablehnung durch Frankreich und Deutschland, um Verhältnis zu RU nicht zu zerstören. )
2014:
US-Senat beschließt Waffenlieferungen an UKR.
22. Apr 2014:
US Vizepräs. Joe Biden besucht UKR mit Zusage für 50 Mrd Dollar Kredit und Rüstungsgüter für 8 Mrd Dollar.
2014:
US-Bürgerin Natalia Jaresko wird nach Spontaneinbürgerung neue Finanzministerin der UKR. Sie war vorher Investment-Bankerin in USA.
2014:
Sohn von Joe Biden, Hunter Biden, und der ehem. Stabschef von US Außenminister Kerry Leter und der ehem. Wahlkampfmanager von US Außenminister Kerry Archer werden Mitglieder im Verwaltungsrat der größten UKR Gasfirma Burisma. Hunter Biden erhält als Vergütung einen festgelegten Dollarbetrag pro 1.000 Kubikmeter Erdgas, das durch die Rohre von Burisma läuft. Hier verbinden sich offensichtlich US-nationale Wirtschaftsinteressen mit familiären Vermögensinteressen der Familie Biden.
Danach habe ich in meinen handschriftlichen Notizen ohne genaue Datumsangabe gefunden: In der Ukraine 150 Soldaten der privaten Militärfirma Greystone in ukrainischen Uniformen und 400 Söldner des US-Militärdienstleisters Academy und 75 britische Militärausbilder in der UKR.
3. Sept 2014:
US Präs. Obama berichtet, russ. Kampftruppen mit Kampfpanzern wären in Ostukraine einmarschiert. Deutsche Medien berichten darüber. OSZE berichtigt, die derzeit eingesetzten 200 OSZE Beobachter an der russ.-ukr. Grenze hätten keinerlei Bewegungen von russ. Soldaten oder Waffen an der Grenze festgestellt. Die Deutschen Medien berichten nicht über diese Richtigstellung.
April 2015:
300 amerikanische Fallschirmjäger werden für 6 Monate als Ausbilder in die UKR verlegt.
2016/17:
US-Raketen werden entgegen russischem Protest in Polen und Rumänien installiert, also auch in Zielentfernung zu Russland.
2017 bis heute:
USA bekämpfen zunehmend das zukünftige Umleiten von deutschen Erdgasimporten aus Russland um die UKR herum durch die im Bau befindliche Erdgas-Pipeline North Stream II und erhöhen gleichzeitig alljährlich ihren eigenen Erdölimport aus Russland.
Russische Vorgeschichte:
1990 und danach:
DieSowjetunion zieht ihre Truppen aus allen nichtsowjetischen Staaten ab.
1999:
Polen, Ungarn und Tschechien werden als erste ehem. Ostlockstaaten in die NATO aufgenommen.
2001 und danach: Putin hat in drei Reden eine Freihandelszone zwischen EU und Russland und eine stärkere wirtschaftliche Vernetzung zwischen Deutschland und Russland angeregt:
- 2001 in einer auf Deutsch gehaltenen Reichstagsrede in Berlin,
- 2007 auf der Münchner Sicherheitskonferenz und
- 2010 auf einem Wirtschaftsforum in Berlin.
2007 Putin erklärt auf der Münchner Sicherheitskonferenz, dass eine weitere NATO-Osterweiterung auf das ehemalige Gebiet der Sowjetunion das „Überschreiten einer roten Linie“ bedeute.
Als 2013 die USA und die EU beginnen, die Ukraine aus der russ. Wirtschaftszone herauszuziehen, weiß man in Moskau, dass dem langfristig die NATO und damit eine Stationierung von US-Truppen in der UKR folgen werden und dass damit der russ. Marinestützpunkt Sewastopol im Schwarzen Meer an die Amerikaner übergehen würde.
Die Russen ziehen die Reißleine und annektieren im März 2014 die Halbinsel Krim ( wobei das hier gebrauchte und übliche Wort Annexion eine Gewaltanwendung beinhaltet, die hier aber nicht vorliegt. Die Übernahme der Krim durch RU geschieht zwar gegen ukr. Protest aber ohne militärische Gewalt und nach dem Willen der überwiegenden Mehrheit der Krim- Bevölkerung.).
Noch Anfang März 2014:
Putin verkündete: „Nein, wir erwägen keine Annexion der Krim. Wir werden eine solche Entscheidung nicht herbeiführen oder solche Gefühle wecken.“
21. März 2014:
Referendum auf der Krim: bei 83% Wahlbeteiligung 97% Zustimmung zum Anschluss an Russland.
2021:
RU verlegt umfangreiche Truppen in die Nähe zur UKR Grenze.
Dez. 2021:
2 Telefonkonferenzen zwischen Putin und Biden: Putins und Lawrows Vorschläge und Forderungen lauten:
– Keine weitere Osterweiterung der NATO an RU´s Grenzen,
– Keine NATO-Manöver mehr nahe Russland und keine russ.
– Manöver mehr nahe den NATO-Staaten, weder zu Land noch zur See noch im Luftraum,
– Keine Stationierung mehr von Atomwaffen außerhalb des eigenen Landes.
Vorgeschichte der Zusagen und Verträge:
Zur Beurteilung der heutigen Lage gehört eine Gesamtschau auf die bisherigen Volksabstimmungen, mündlichen Absprachen und Zusagen, schriftlichen Absichtserklärungen und Verträgen und auf den offensichtlich international üblichen Umgang mit ihnen. Hierbei halten es alle Seiten nicht so genau damit, und die russische Besetzung der Krim passt da genau hinein: Am Anfang stand 1990 die mündliche Baker-Zusage, dass sich die NATO nicht nach Osten ausdehnen werde. Obwohl die Zusage bald darauf vom NATO-Generalsekretär und vom deutschen Außenminister bestätigt wurde, galt sie ab 1999 mit der Aufnahme von Polen, Ungarn und Tschechien nicht mehr.
1991 votierten 93 % der Krimbewohner in einem Referendum für den Verbleib der Krim bei Russland. Darüber ging die ukrainische Regierung mit einfachem Beschluss hinweg.
1994 erkannte Russland zusammen mit anderen Mächten die Staatsgrenzen der Ukraine im Budapester Memorandum an. Die Rechtsverbindlichkeit des Memorandums wurde schon im selben Jahr vom US-Botschafter angezweifelt und Putin hat sich 2014 mit der Krim-Übernahme nicht mehr an das Memorandum gehalten, nachdem sich die NATO ab 1999 nicht mehr an die Baker-Zusage gehalten hat.
Im Minsker Protokoll ( Minsk I ) und im Minsker Abkommen ( Minsk II ) war den Oblasten Donezk und Lugansk Waffenruhe und ein Gesetz über ihren Sonderstatus innerhalb der Ukraine zugesagt worden. An die Waffenruhe haben sich offensichtlich alle Konfliktparteien nicht gehalten, und statt des Gesetzes über einen Sonderstatus hat das ukrainische Parlament 2018 ein Reintegrationsgesetz erlassen, wonach weitere Verhandlungen mit den Oblasten Donezk und Lugansk gesetzlich untersagt wurden und die beiden Oblaste bereits als vom „Aggressorstaat Russland“ „okkupiertes Gebiet“ bezeichnet wurden.
Man fragt sich, wer hier wem die Türe zuschlägt.
Bisherige Beurteilung:
Rund um Deutschland herum überlappen sich vier strategische Bewegungen.
1. Russland …
sucht Frieden und Vernetzung in Europa, hat sich aber 2014 entgegen heutiger Völkerrechtsaufassung die zu 80% russisch bevölkerte Krim einverleibt.
Putin äußert, dass er die Ukraine nicht erobern will und dass er die Aufnahme der Ukraine in die NATO nicht dulden wird. Das ist offensichtlich das Kernproblem der augenblicklichen Ukrainekrise.
Ich gehe mit Sicherheit davon aus, dass Putin mit seinem Drohaufmarsch an der ukr. Grenze ein Zeichen für die UKR und die USA setzt, dass er eine Aufnahme der UKR in die NATO mit Waffengewalt verhindern wird. Er wird keine weitere Osterweiterung der NATO bis an Russlands Grenze hinnehmen.
Russland wird bei weiterer Ablehnung seiner Forderungen und weiteren Sanktionen durch Deutschland, die EU und die USA militärisch und wirtschaftlich eine strategische Partnerschaft mit China eingehen und ausbauen.
Russland mit nur 14 % vom BIP Staatsverschuldung wird Wirtschaftssanktionen und einen Waffengang um die UKR möglicher Weise leichter verarbeiten als die USA mit ihrem Schuldenberg von 134 % vom BIP.
2. Die USA …
wollen Hegemonialmacht in Europa bleiben und bekämpfen deshalb Russlands Bemühen, seine Bedeutung in und für Europa zu erhalten. Anders sind der Wirtschaftskrieg um die Gaspipeline North Stream II und die amerikanische Wirtschaftsinfiltration in der Ukraine und ihr Bemühen, 2008 Georgien und die Ukraine in die NATO aufnehmen zu lassen, nicht zu verstehen. Die USA treten im Falle der Ukrainekrise nicht nur als Schutzmacht der UKR sondern auch mit großer Härte als Wirtschaftskonkurrenz für Deutschland auf. Die USA sind der größte Exportmarkt Deutschlands und der drittgrößte Außenhandelslieferant und zugleich seine militärische Schutzmacht.
Die USA nutzen Ihre Wirtschaftshebel, um die NATO-Mitglieder bei Bedarf zur Gefolgschaft zu zwingen. Das sind Boykotts, Embargos, Strafzölle, Einfrieren von Auslandsguthaben, Gerichtsurteile gegen ausländische Großunternehmen mit existenzgefährdenden Geldstrafen und die Weigerung der Herausgabe der als Pfand in den USA verwahrten Goldvorräte von Bündnispartnern.
3. China …
hat sich in den vergangenen 20 Jahren vom Schwellenland zur wirtschaftlichen und militärischen Supermacht und zum pazifischen Kontrahenten der USA entwickelt. China könnte sich bei einer kriegerischen Auseinandersetzung der USA in Europa im pazifischen Raum zu Ungunsten der USA Vorteile verschaffen.
China ist ansonsten inzwischen der zweitwichtigste Handelspartner Deutschlands geworden, und, was den Im- und Export von Gütern betrifft, der wichtigste.
4. Deutschland
Deutschland steckt in einer Zwickmühle zwischen sicherheitspolitisch gebotener USA-Loyalität und -Abhängigkeit und zwischen Einigkeitsgebot der uneinigen EU-Staaten und zwischen seiner Abhängigkeit von Russlands Markt, Rohstoffen und militärischem Wohlverhalten und Abhängigkeit vom Zugang zum chinesischen Markt und zu chinesischen Produkten.
- Deutschland fürchtet die angedrohten Wirtschaftssanktionen der USA.
- Es braucht Russland als Energie- und Rohstofflieferant, als Markt und friedlichen Nachbarn.
- Es leidet unter der Einmischung der EU in sein Wirtschaftsverhalten
- ( Widerstand gegen North Stream II, Preisauflagen für russisches Gas, Ausfallbürgschaften für UKR usw. )
Beurteilung der Kriegsgefahr:
Vor dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg gab es eine ähnliche Entwicklung wie heute mit einem Ringen der Großmächte um ihre hegemoniale Stellung und um ihre Weltmarktanteile, mit jahrelangen gegenseitigen Verdächtigungen und Unterstellungen ( in einer Skala von worst-case-Überlegungen bis zu massiven Beschuldigungen ) und häufigen Vertragsbrüchen auf allen Seiten und nicht eingehaltenen Absprachen. Auslöser und Anlässe zum Ausbruch der Kriege waren beide Male geringfügige Ereignisse wie sie auch heute leicht möglich sind. Ein Zündfunke reichte auch damals, um damit über die Transmissionsriemen von Bündnisverpflichtungen, Hegemonialansprüche im Atlantischen und im Pazifischen Raum, Wirtschaftsinteressen, ideologischen Zwangsvorstellungen und Politikerehrgeiz in nur wenigen Monaten Weltkriege zu entfachen. Auch noch kurz vor beiden Weltkriegen ahnte kaum jemand, dass aus den damals kleinen Lokalkonflikten so bald Weltbrände entstehen würden. Es ist möglich, aber – mit Gottvertrauen betrachtet – nicht wahrscheinlich, dass sich das Szenario wiederholt. Aber die Ähnlichkeit muss warnen.
Der Zündfunke könne beim nächsten Mal die Aufnahme der Ukraine in die NATO sein. Wie es das Beispiel des Ersten Weltkriegs zeigt, könnte der Zündfunke aber auch eine Provokation eines „Nebenspielers“ sein, der hofft, mit eigenem Vorteil aus einem Krieg der „Hauptspieler“ hervorgehen zu können.
Auch nach einer theoretisch möglichen, jedoch unwahrscheinlichen russischen Duldung der Aufnahme der UKR in die NATO wäre die Kriegsgefahr nicht gebannt. Anschließend müssten, was ebenfalls unwahrscheinlich ist, die UKR und die NATO-Staaten die zukünftige Zugehörigkeit der Krim zu RU anerkennen. Andernfalls würde ein ( neues ) NATO-Mitglied eine Gebietsforderung an RU stellen. Die UKR könnte mit der militärischen Macht der NATO im Rücken den untauglichen Versuch unternehmen, die Krim zurückzugewinnen, was zu einem Grenzkonflikt mit RU führen würde, also neuer Kriegsgefahr zwischen Russland und der NATO.
Folgerungen für Deutschland:
Die deutsche Politik des Durchlavierens und der „Halbentscheidungen“ steckt in der Ukrainekrise in der Sackgasse. Ein Ende der Eskalationsschraube ist mit einem weiteren Androhen von „harten Maßnahmen“ und „hohem Preis“ gegenüber RU und ohne eine klare Position gegenüber den USA und der UKR unwahrscheinlich.
Deutschland, die Nato und die USA, sollten erstens die sicherheitspolitische Notwendigkeit anerkennen, dass zwischen zwei Machtblöcke Pufferstaaten gehören. Die Ukraine ist nach ihrer geographischen Lage ein solcher Puffer. Die Ukraine hat als souveräner Staat zwar das Recht, sich seine Bündnispartner selbst auszuwählen und einen NATO-Beitritt zu beantragen, aber sie hat selbst kein Anrecht auf einen NATO-Beitritt. Die NATO aber hat das Recht, im eigenen Sicherheitsinteresse zu entscheiden, wen sie aufnimmt und wen nicht. Die USA und die NATO sollten militärisch die Finger von der Ukraine lassen. Die USA haben 1962 auch nicht geduldet, dass ihnen die Sowjets militärisch in Cuba auf die Pelle rückten. Eine zukünftige Sicherheitsarchitektur Europas wird ohne einen Pufferstaat in dieser Region nicht lange halten.
Deutschland sollte zweitens seine Rolle in seiner Zwickmühlenlage nüchtern und ohne moralische Anmaßungen betrachten. Wir müssen zu allen vier Machtzentren hin ( USA, EU, RU und CHIN ) Verträglichkeit wahren, ohne aus der Vorstellung der moralischen Überlegenheit einer „westlichen Wertegemeinschaft“ trügerische Folgerungen zu ziehen. Schon ein Vergleich der außenpolitischen Gepflogenheiten unserer „Leitnation“ in der westlichen Wertegemeinschaft USA mit den außenpolitischen Gepflogenheiten Russlands zeigt, dass beide Staaten meist auf dem gleichen moralischen Niveau agieren.
Nicht nur RU annektierte eine zu 80 % von Russen bewohnte Krim. Auch die USA annektierten einst das mehrheitlich amerikanisch besiedelte mexikanische Texas so wie auch die schwach amerikanisch besiedelten Hawaii-Inseln. Nicht nur RU setzte Söldner auf der Krim und in der Donbas-Region ein. Auch die USA setzten 2009 Blackwater-Söldner im Irak ein. Nach dem Sturz Saddam Husseins waren es über 48.000 Academy-Söldner. (ehem. Blackwater ). Nicht nur RU griff in Unruhen in Georgien, Moldawien und Syrien ein. Auch die USA griffen früher wiederholt in Mexico und später in Grenada, Guatemala, Panama, Libyen, und Syrien ein. Nicht nur Putin ( RU ) verkündete 2014 kurz vor der Übernahme der Krim, dass er nicht erwäge, die Krim zu annektieren.
Auch Roosevelt ( USA ) beruhigte die amerikanische Bevölkerung am 3.9.1939 und am 29.4.1940 und am 30.10.1940 und am 3.11.1940 und im Januar 1941 mit der Zusicherung, dass er die USA aus dem Krieg gegen Deutschland heraushalten werde. (Roosevelt befahl und eröffnete den Schießkrieg gegen Deutschland dann ohne Kriegserklärung gegen die deutsche Kriegsmarine auf dem Nordatlantik drei Monate vor Hitlers Kriegserklärung an die USA ).
Nicht nur RU führt Propaganda-Kampagnen vor kriegerischen Auseinandersetzungen durch irreführende und falsche Nachrichten. Auch die USA pflegen das zu tun. Die letzten Beispiele sind die Aussage des US Außenministers Powell am 5.2.2003 vor dem UN-Sicherheitsrat über die inzwischen als gezielte Fehlinformation anerkannten „Geheimdienst-Erkenntnisse“ mit den irakischen chemischen Massenvernichtungswaffen und die Aussagen von US Präsident Obama über angebliche russische Truppenbewegungen vom 3. September 2014.
Die deutschen Leser seien auch daran erinnert, dass US Präsident Roosevelt am 27.10.1941 dem amerikanischen Volk in einer Rundfunkansprache mitgeteilt hat, dass ihm gesicherte Geheimdiensterkenntnisse über einen deutschen Angriffsplan über Frankreich-Spanien-Westafrika-den Südatlantik-Südamerika-Panama gegen die USA vorlägen. Damit hatte Roosevelt seinen Krieg gegen Deutschland als Verteidigungskrieg „legitimiert“. Es war schon damals unglaubwürdig, dass die deutsche Wehrmacht, die gerade Ihren Invasionsplan über den 30 km breiten Ärmelkanal gegen England hatte aufgeben müssen, sich nun planerisch an die 4.000 Km breite Südatlantik-Passage heranwagen würde. Ich halte veröffentlichte amerikanische Geheimdiensterkenntnisse für absolut unglaubwürdig. Sie sollten nie zur Grundlage deutscher Überlegungen und Entscheidungen werden.
Da Putin mehrfach und eindeutig geäußert hat, wo für ihn der Casus Belli beginnt, nämlich bei der Aufnahme der UKR in die NATO, sollte Deutschland drittens dafür sorgen, dass der Casus Belli nicht eintritt. Deutschland sollte im Verein mit Frankreich durch klare Willensäußerungen bekunden, dass es auch in Zukunft keine Aufnahme der UKR in die NATO dulden wird. Das enthebt die NATO als Organisation einer eigenen Entscheidung und nimmt RU einen der zwei Gründe für seinen Truppenaufmarsch in der Nähe zur ukr. Grenze. Es wäre das „Durchschlagen des gordischen Knotens“.
Deutschland sollte viertens im Verein mit Frankreich eine Donbas-Konferenz einberufen und zusammen mit den Regierungen der UKR, RUs, und der international nicht anerkannten Separatistenregierungen von Donezk und Lugansk den zukünftigen Status der abtrünnigen Regionen klären und vertraglich festschreiben. Ein Status der inneren Autonomie innerhalb der UKR mit russischer Amts- und Schulsprache und weiteren Hoheitsrechten für die dortige russische Bevölkerungsmehrheit wäre denkbar. Das nähme RU den zweiten seiner zwei Gründe für seinen Truppenaufmarsch zum Schutz der mehrheitlich russischen Bevölkerung in den zwei Oblasten. Es entspräche außerdem den zwei Minsker Vereinbarungen.
Deutschland sollte fünftens die fertiggestellte Ostseepipeline North Stream II unverzüglich in Betrieb nehmen. Deutschlands zunehmender Energiebedarf braucht das. Russlands bisherige wirtschaftliche Vertrags- und Verabredungstreue verdienen das. Amerikas wirtschaftliche eigenen Exportinteressen und seine eigenen Erdölimporte aus RU disqualifizieren die Vorhaltungen über eine Abhängigkeit Deutschlands von RU. Und US Präsident Biden hat die amerikanischen Sanktionsdrohungen gegen die deutschen Betreiberfirmen inzwischen aufgehoben. Die eine Inbetriebnahme bisher blockierende EU-Erdgasrichtlinie wurde erst im April 2019 während des Baus der Pipeline so ergänzt, dass sie auch die North Stream II betrifft. Sie ist außerdem noch rechtlich umstritten. Eine Inbetriebnahme wäre auch ein Zeichen an die EU, die USA, die UKR und Polen, dass Deutschland nicht in jeder Hinsicht durch moralischen Druck und „Solidaritätsansprüche“ erpressbar ist.
Deutschland sollte sich sechstens, solange die UKR nicht angegriffen worden ist und nur einen Sezessionskrieg auf eigenem Boden ausficht, neutral verhalten. Eine Bedrohung der UKR bei gleichzeitiger Bedrohung der Sicherheitsinteressen Russlands ist eine Münze mit zwei Seiten. Neben dem Recht der UKR auf Wahrung seines territorialen Bestandes sind auch die zugesagten und nicht gewährten Autonomierechte der russischen Bevölkerung im Donezk- und Lugansk-Gebiet zu bedenken. Deutschland wird ohnehin nach deutschem Recht keine Waffen in Spannungsgebiete liefern. Jede Lieferung wäre ein Stück einseitige Eskalation und mitnichten ein Stück reale Abschreckung oder gar Deeskalation. Deutschland hat in der UKR auch nach einem Kriegsausbruch weder vertraglich noch moralisch eine Verpflichtung zum Helfen oder Eingreifen. Es sollte sich nicht im Zuge der Hegemonialbestrebungen und der Wirtschaftsinteressen der USA und der dazugehörenden NATO-Solidarität in einen Krieg hineinziehen lassen.
Anders sieht es mit Militärhilfen für NATO-Staaten in Randlage zu RU aus, wenn die sich derzeit bedroht fühlen.
Die deutsche Regierung sollte siebtens jetzt schon Klarheit für den Fall eines Krieges um die oder in der Ukraine schaffen. Sie sollte ankündigen, dass Deutschland in einem solchen Fall neutral bleibt. Sie sollte auch erklären, dass Deutschland sich an Sanktionen erst später und nur nach eigenen Entscheidungen beteiligt. Die rüde Erklärung Präsident Bidens, die deutsch-russische Ostseepipeline im Falle eines Krieges zu zerstören, gebietet es, der amerikanischen Regierung keine Blankoschecks auszustellen. Auch bei dem jetzt schon anmaßend fordernden Auftreten der ukr. Regierung gegenüber Deutschland sind Klarstellungen offensichtlich geboten. Zu viele Beistandsversprechen westlicher Staaten an die UKR könnten dazu führen, dass ukr. Vertreter bei internationalen Verhandlungen um die Zukunft der überwiegend russisch bevölkerten ostukrainischen Oblaste zu selbstherrlich und zu wenig konzessionsbereit sind. Die USA und die UKR verdienen diese Klarheit.
Der ehemalige Bundeskanzler Schröder hat Deutschland richtiger Weise 1991 aus dem 2. Golfkrieg im Irak herausgehalten. Bundeskanzler Scholz sollte das in einem „Ukrainekrieg“ auch gelingen.
Achtens sollte man in Deutschland nicht vergessen, dass unsere Wiedervereinigung vor 32 Jahren erst durch die Zustimmung Gorbatschows möglich wurde. Und die gab es im Gegenzug zur mündlichen Zusage des amerikanischen Außenministers Baker: „Die NATO wird keinen Inch weiter nach Osten vorrücken.“ Der Verzicht auf eine NATO Osterweiterung war also ein Teil des Preises für die Wiedervereinigung. Wir sollten auch nicht vergessen, dass der deutsche NATO-Generalsekretär Wörner und der deutsche Außenminister Genscher das in ihren Reden und Interviews bestätigt haben. Wir Deutsche sind, anders als andere NATO-Mitglieder, erstrangige Zeugen dieser frühen amerikanischen Zusage. Wir sollten das weder vergessen noch aus anderen Gründen leugnen. Wir schulden das den Russen.
Ende
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