Von Peter Forster, veröffentlicht am 28.03.2022 bei bulletin-1.ch
Fast jeden Tag schlagen in der Ukraine russische Fernwaffen ein. Iskander-Raketen und Kalibr-Marschflugkörper schiessen gegnerische Erdöllager in Brand, zerstören das Hauptquartier der feindlichen Luftwaffe und legen ein NATO-Trainingscamp in Schutt und Asche.
Dennoch hält sich hartnäckig das Gerücht: Die russischen Abstandswaffen funktionieren nicht. Sie verfehlen das Ziel oder explodieren nicht. Was ist davon zu halten?
Raffinierter Schachzug der CIA
Wer der Antwort näher kommen will, der muss sich einen Moment lang mit der Propagandaschlacht befassen. Die Ukraine hat einen Apparat aufgezogen, den die NZZ “strategische Kommunikation” nennt, in Tat und Wahrheit aber eine gewaltige, erfolgreiche Propaganda verbreitet. Unterstützungsfeuer schiessen aus Washington die amerikanischen Truppen der Information Operations. Sie sind wie die Ukrainer mit allen Wassern gewaschen. Die Russen sind in der Defensive, leiden unter Putins groben Lügen und verlieren die Schlacht mit 1:100.
Das gilt auch für die Gerüchte um die Fernwaffen. Für den Ukrainekrieg haben sich die Amerikaner wie vor jedem grossen Waffengang etwas Neues einfallen lassen. Die CIA gab ihre Geheimhaltung auf und fütterte die Propaganda-Apparate mit sonst klassifiziertem Stoff über den russischen Gegner. In einer raffinierten Operation nahm sie Putin vor der Invasion den Wind aus den Segeln: Sie gab schon zum Aufmarsch Details, Satellitenfotos und Zahlen frei, die den Russen als das entlarvten, was er ist: ein kalt berechnender Kriegstreiber. Präsident Biden hilft der CIA. Er hiess die neue Taktik gut.
Gefundenes Fressen
Dann geriet der russische Vormarsch ins Stocken. Die Ukrainer leisten kompetent und tapfer Gegenwehr. Aus Putins “Blitzsieg” – man verzeihe das Vokabular – wurde nichts.
Das war ein gefundenes Fressen für die spin doctors in Kiew und Washington. Behende erstellten sie den Katalog der unerwarteten russischen Schwächen. Dass die Invasoren aufliefen, spielte den Propagandachefs in die Hand. Sie sind in ihrem Handwerk nicht wählerisch – wieder am Beispiel der Fernwaffen, zu denen sie auf einen “alten” Krieg zurückgriffen: auf das Ringen von Armenien und Aserbaidschan um Bergkarabach vom 27. September bis zum 10. November 2020.
- Die russische Waffenschmied Kolomna hatte den Armeniern früh vier 9M723E-Iskander-Raketen geliefert, ohne für die korrekte Wartung zu sorgen. Als in Erewan der revolutionäre Nikol Paschinjan das Ruder übernahm, brach Putin mit dem alten Verbündeten Armenien. Weder politisch noch militärisch erhielt Paschinjan Support. Armenien verlor den Krieg hochkant.
- Aber: Im Februar 2021 bemängelte Premierminister Paschinjan die Zuverlässigkeit und Präzision seiner russischen Waffen. Insbesondere hätten die vier Iskander-Raketen versagt: Weder hätten die 9M723E die Ziele getroffen noch seien die Gefechtsköpfe detoniert. Mag sein. Nur hatten die Armenier die Raketen nicht oder lausig gewartet, ohne dass daraus auf die Qualität der Iskander zu schliessen ist.
Erneut > Aussage gegen Aussage
Das hindert Russlands Gegner nicht daran, Paschinijans “Narrativ” zu übernehmen und auszuschlachten. So stehen sich in der Propagandaschlacht zwei Positionen gegenüber:
- Die Paschinijan-Geschichte von den Irrflügen und Blindgängern, befeuert aus den USA,
- gegen das russische Dementi, das im Nebel des Krieges verhallt, wenn auch die Videosequenz vom 26. März 2022 zum Abschuss von vier Kalibr aus einem der südlichen Meere um die Welt ging.
Festhalten kann man sich heute, am 33. Kriegstag, bestenfalls an den militärischen Tatsachen:
- Unter russischem Aspekt zählt der Einsatz der Fernwaffen zu den operativen Pluspunkten. Die Iskander und Kaliber funktionieren zuverlässig. Sie treffen und detonieren mit ihren grausamen, 800 Kilogramm wiegenden Gefechtsköpfen.
- Auch wenn der russische Generalstab bisher keine Anstalten zu einem Bodenangriff an der Westfront getroffen hat, geben ihm die Abstandswaffen ein Instrument in die Hand, in und bei den westukrainischen Städte Lemberg, Luzk, Ivano-Frankivsk, Ternopil und Tschernivitsi gegnerische Stützpunkte und kritische Infrastruktur auszuschalten. Selbst in Yavoriv, nur 20 Kilometer von Polens Grenze entfernt, zerstörten sie ein NATO-Trainingscamp.
- Iskander- und Kalibr-Ziele liegen an der strategischen Versorgungsroute von Polen, Rumänien und der Slowakei nach Kiew. Die NATO schafft nach wie vor viele Defensivwaffen – nennen wir nur die Stinger, die Javelin und Land-See-Raketen für die Schlacht um Odessa – von ihrer Ostfront in die bedrohte Ukraine hinein. Mit den Fernwaffen unterstützt der Generalstab in Moskau die starken Speznaz-Verbände, die den NATO-Nachschub zu sabotieren suchen und Ziele für Mittelstreckenbomber Tupolew-22 “beleuchten”.
Zu Kalibr oder Iskander, die versagt haben sollen, liegen am 28. März 2022 keine erhärteten Tatsachen vor.
Kommentarfunktion ist geschlossen.