StartChristentum, Hoffnung und TranszendenzJESUS von NAZARETH – der GEMARTERTE und GESCHÄNDETE

JESUS von NAZARETH – der GEMARTERTE und GESCHÄNDETE

Ein aufrüttelnder Blick auf den Karfreitag

Offenbar gingen vor nicht wenigen Jahren die Wogen im Missbrauchsskandal der römisch-katholischen Kirche hinsichtlich einer delikaten und gleichsam aufrüttelnden Fragestellung hoch! Es wurde an einigen Orten die Frage nach Jesus von Nazareth gestellt:

Wurde Jesus, während er grausam gefoltert und gekreuzigt wurde, sexuell missbraucht?

Es war eine mit Blick auf die Opfer erörterte Frage, um ihnen Jesus als „Identifikations- und Trostgestalt“ (J. Kügler, Jesus als Opfer sexuellen Missbrauchs?) zur Seite zu stellen.

Es war eine für besonders „fromme“ Seelen jedoch erschreckende Frage und für erzkonservative und reaktionäre Katholiken ja geradezu ein skandalös anmutender Gedanke. Gegen den sie, wie berichtet wird, sogleich Stellung bezogen (J. Kügler, s.o.).

Ein misshandelter, ein gefolterter Jesus, ja. Ein gekreuzigter Jesus, der für unsere Sünden starb, ja. Aber ein sexuell misshandelter, gedemütigter? Welch eine Blasphemie!

Dennoch: diese Frage beschäftigte Theologen und Historiker bereits schon vor dem berüchtigten deutschen Jahr 2010. Die Frage ließ auch mich so schnell nicht mehr los.

Denn aus Folterberichten, wie sie bei Amnesty International oder bei Humanrights u.a. nachzulesen sind, ist bekannt, dass in vielen Ländern sexuelle Misshandlungen und sexueller Missbrauch in der Regel Teil zahlreicher Foltermethoden sind.

Sehr plastisch zeigen dies die im Lateinamerika der 1970er und 1980er Jahre von den diktatorischen Regimen verwendeten Folterpraktiken. Zahlreiche Zeugnisse bestätigen nicht nur, wie Folter zum Zwecke staatlichen Terrors genutzt wurde; sie zeigen auch auf, dass sexuelle Gewalt bei der Folter weit verbreitet war (und ist), dass sexuelle Demütigungen und Misshandlungen regelmäßig zu den brutalen Mitteln staatlicher Folterpraktiken gehören, um Menschen zu zerstören.

Kreuzigungen – Staatsterror im römischen Weltreich

Entsprechend wurden auch die römischen Kreuzigungen vor rund 2000 Jahren, denen bereits eine grausame Folterprozedur vorausging, als eine Form des Staatsterrors praktiziert. Kreuzigungen gingen weit über individuelle Strafmaßnahmen hinaus; sie richteten sich vornehmlich an unterworfene Völker und deren „Rebellen“, die die römische Autorität infrage stellten und wurden u.a. als Exempel statuiert.

Und nicht nur das: den Kreuzigungen waren darüber hinaus sexuelle Komponenten immanent, die sexuelle Demütigungen bis hin zu sexuellen Übergriffen einschlossen. Der neuseeländische Theologe David Tombs schreibt hierzu: „In einer ritualisierten Form öffentlicher sexueller Demütigung wurden die Opfer nackt gekreuzigt.“ Ich werde darauf weiter unten näher eingehen (s.u., Kreuzigung).

DAS LEIDEN JESU

Die Überlieferung der vier Evangelien

Nach dem Lesen verschiedener, vor allem historischer Beiträge zu diesem hochdelikaten Thema beschäftigte ich mich zuallererst mit der Leidensgeschichte Jesu in den vier Evangelien. Und suchte alle Textstellen heraus,

die in den Berichten über die Marter Jesu, d.h. in den Erwähnungen seiner Folter, seiner Misshandlungen, der ihm grausamen Zufügung furchtbarer Qualen,

auch einen Hinweis auf die Frage nach sexueller Misshandlung geben können. Einen Hinweis. Denn konkret wird dazu nichts genannt oder gar beschrieben. Und es sind Hinweise vorhanden. Unausgesprochene Hinweise, Hinweise auf entsprechende Demütigungen sexueller Art.

Denn die Evangelisten erwähnen die erzwungene Nacktheit Jesu innerhalb der Folterprozedur.

Allgemein ist jedoch festzustellen, dass wir bei keinem von ihnen detaillierte Ausführungen finden, weder zur Folter, noch zur Kreuzigung. Ihre Berichte über die schrecklichen Qualen, die Jesus zugefügt wurden, sind weder genaue Schilderungen, noch sind sie protokollarische Aufzeichnungen.

Betrachten wir nun die entsprechenden Textstellen.

Im Evangelium des Markus finden wir die Passion Jesu in den Kapiteln 14 und 15. Der Evangelist berichtet von brutalen Schlägen, die Jesus erdulden musste (14,65; 15,18-19), von Bespuckt-Werden, von Spott, Verhöhnung und dem schmerzvollen Aufdrücken der Dornenkrone (15,16-20).

Im Prätorium, dem Statthalterpalast, wurde die „ganze Kohorte“, d.h. die Kohorte der Soldaten, die Markus eigens nennt, zusammengezogen (15,16) Die römischen Soldaten waren in der Regel für die Folterung zuständig, konnten nach Gutdünken verfahren und waren für ihre unbeschreibliche Brutalität, ihren Sadismus und auch für ihre Perversität berüchtigt.

Während der Verhöhnung kleideten sie Jesus (den nackten Jesus, s.u.) in den so genannten Purpurmantel, den sie ihm nach ihrem bösen Spiel wieder auszogen: „Nachdem sie so ihren Spott mit ihm getrieben hatten, nahmen sie ihm den Purpurmantel ab und zogen ihm seine eigenen Kleider wieder an“ (15,20). Eindeutig geht aus diesen Zeilen hervor, dass die Soldaten Jesus entkleidet hatten. Dass Jesus ihren Klauen nackt ausgeliefert war.

Bei seinem knappen Kreuzigungsbericht erwähnt Markus, dass die Wächter das Los über Jesu Kleider warfen und diese unter sich aufteilten: „sie … verteilten seine Kleider unter sich und gaben jedem, was ihm zufiel“ (15,24). Markus‘ Aussage verweist wieder eindeutig auf Jesu Nacktheit, verweist darauf, dass er, wie es üblich war, nackt gekreuzigt wurde. Aber auch darauf, dass den Hörern und den Lesern seiner Botschaft die Hinrichtungsart der Kreuzigung und deren Details bekannt waren.

Die Passionsberichte von Matthäus und Lukas unterscheiden sich im Inhalt kaum von dem des Markus (Mt 27; 27,27-31. Lk 22; 23; 22,63-65). In 27,28 erwähnt Matthäus zudem ausdrücklich, dass die Soldaten Jesus „auszogen“, bevor sie ihm den Purpurmantel umlegten. Lukas fügt mit der Episode bei Herodes noch eine Besonderheit an (Lk 23,11).

Die kurzen Kreuzigungsberichte decken sich ebenso mit jenem von Markus, gleichfalls findet sich der Hinweis auf die Verteilung von Jesu Kleidern unter den wachhabenden Soldaten (Mt 27,35; Lk 23,34). Die Erwähnung des Lukas, dass bei all diesem „das Volk … dastand“ und „zusah“ (23,35), betont überdies die öffentliche Schmach, die Jesus als eigener Teil der Demütigungen zugefügt wurde.

Das Evangelium des Johannes enthält zusätzliche Aspekte innerhalb der Leidensdarstellungen, so die Befragungen bei den Hohepriestern und die Dialoge zwischen Jesus und Pilatus (Kap. 18, 19).

Meine Fragestellung betreffend gibt auch Johannes bei der Schilderung der Kreuzigung den, wenn auch unausgesprochenen, jedoch eindeutigen Hinweis auf Jesu Nacktheit am Kreuz: „Nachdem die Soldaten Jesus ans Kreuz geschlagen hatten, nahmen sie seine Kleider und machten vier Teile daraus, für jeden Soldaten einen. Sie nahmen auch sein Untergewand, das von oben her ganz durchgewebt und ohne Naht war“ (19,23).

Nach der zunächst allgemeinen Benennung der Verteilung der Kleider führt der Evangelist das Untergewand im Speziellen an, welches die Soldaten Jesus ebenfalls ausgezogen hatten, und lässt uns damit gleichzeitig einen kurzen Blick auf ein kleines Stück Kulturgeschichte werfen.

Bei dem Untergewand handelte sich um eine aus Wolle oder Leinen hergestellte hemdartige Tunika, die unmittelbar auf dem Körper getragen wurde und somit die Intimbekleidung Jesu war. Normalerweise bestand sie aus zwei rechteckigen Stoffbahnen.

Das Untergewand Jesu aber, dem das besondere Augenmerk der Soldaten galt, gehörte zu den selteneren und erleseneren Kleidungsstücken dieser Art. Es war ein nahtloses, von oben nach unten durchgewobenes Gewand, wie es nur in Palästina gefertigt wurde.

Die Kreuzigung und ihre Hinrichtungsprozedur – historische Aspekte

Sie war eine der grausamsten Hinrichtungsarten des Alten Orient und der römischen Antike: die Kreuzigung. Im römischen Reich wurden vor allem Nicht-Römer, Volks-Aufrührer, politische Aufrührer und Unliebsame sowie die „Niedrigsten“ der Gesellschaft, die Sklaven gekreuzigt. So fiel auch die Kreuzigung Jesu unter die Kategorie der „Volks-Aufwiegelung“, sie war eine Demonstration römischer Staatsmacht.

Bei der Kreuzigung wurde ein Verurteilter an einen aufrechten Pfahl, mit oder ohne Querbalken, gefesselt oder genagelt. Der Tod am Kreuz konnte mitunter an die drei Tage dauern; der Verurteilte sollte die Todesqual, die furchtbar war, möglichst lange erdulden. Der Tod, dem Wundbrand, Verkrampfung der Atemmuskulatur, Hitzeschäden oder Erfrierungen vorausgingen, trat durch Ersticken oder Herzversagen ein. Nach dem Todeseintritt überprüften diesen römische Soldaten durch einen Lanzenstich in die Seite oder den Bauch des Verurteilten.

Die gesamte römische Hinrichtungsprozedur, die in der Kaiserzeit in der Regel aus vier Teilschritten bestand, wird wie folgt beschrieben:

„Der vollständigen Entkleidung des Verurteilten und dessen öffentlicher Geißelung

dem erzwungenen Querbalken-…-Tragen zum Hinrichtungsplatz;

dem Fesseln oder Annageln seines Körpers an … den Querbalken;

dessen Befestigung an einem Baum oder auf dem vorbereiteten Pfahl.

Dabei wurden Mensch und Querbalken hochgehoben und mit dem senkrechten Pfahl verbunden“ (Wikipedia).

NACKTHEIT – NACKTE GEWALT

Entkleiden, Auspeitschen

 „Die Geißelung des Entkleideten mit einer Peitsche, dem Flagrum (lat.) – oft zusätzlich mit Nägeln besetzt –, quälte und erniedrigte den Betroffenen zusätzlich, schwächte seinen Organismus durch die Anstrengung und Verspannung unter den Schlägen, den Schmerzen und dem großen Blutverlust“ (Wikipedia).

Wir lesen hier von einer der furchtbarsten Foltermethoden. Einer Foltermethode, die nicht nur Geschichte ist. Die auch heute noch angewandt wird. Die Evangelisten, die alle davon berichten, nennen sie, berichten nur knapp, ersparen den Lesern und Hörern jedoch jegliche Einzelheiten.

Die Tatsache, dass die Soldaten Jesus die Kleider vom Leib rissen, bevor sie ihn verspotteten, bespuckten und mit Nägeln bespickten Geißeln auspeitschten, spricht für sich.
Die „ganze Kohorte“ wurde um ihn zusammengezogen – so die Evangelien.
Eine römische Kohorte aber, verehrte Leserinnen und Leser, bestand aus etwa 480 Mann! Die zusammengetrommelt wurden, um gemeinsam an Jesu Verhöhnung und Folterung teilzuhaben.

Die Brutalität, der Jesus von Nazareth ausgesetzt war, ist unvorstellbar. Unvorstellbar auch, was in jenem Prätorium, dem Statthalterpalast, noch alles vor sich ging. Wie viel Grausames, ungenannt, unerwähnt bleibt.

Die Tatsache also, dass die römischen Soldaten Jesus die Kleider vom Leib rissen, spricht für sich.

Sie bedeutete nicht etwa, dass sie einem nackten Menschen mehr Schmerzen zufügen konnten, als einem Bekleideten. Eine Erklärung, der „fromme“ Seelen in der für sie typischen Einfalt zusprechen. Eine Erklärung auch, die wir als Kinder erhielten. Denn – im Kommunion- und Religionsunterricht der Grundschule stellten wir die Frage danach durchaus: „Warum haben die Soldaten Jesus ausgezogen?“

Erzwungene Nacktheit aber ist immer sexuelle Demütigung, Erniedrigung, Entwürdigung. Sie stellt daher eine Form sexueller Misshandlung, sexueller Gewalt, sexuellen Ausgeliefertseins dar. Sie ist massive Verletzung der Intimität eines Menschen, gleichsam auch seiner Seele. Sie ist Demütigung, Entwürdigung des Menschen in seiner Ganzheit. Einer Ganzheit, in der seine Sexualität und Intimität einen wesentlichen Teil seines Menschseins ausmachen.

Stellen wir uns ein Kind vor. Ein Kind, das ausgezogen wird, das sich ausziehen muss. Von bzw. vor einem perversen Erwachsenen. Als demütigendes, verletzendes „Vorspiel.“ Und dann geht das üble „Spiel“ weiter. Beginnt es erst.

Wenn dann erzwungene Nacktheit in körperlichen Misshandlungen, in grausamer Folter gipfelt, in brutalen Schlägen, in Auspeitschen, in Quälen aller Arten, so machen die Peiniger auch vor spezifisch sexuellen Gewalttaten nicht Halt. Davon sprechen, wie bereits erwähnt, zahlreiche Berichte von Folterpraktiken in diktatorischen Ländern.

Stellen wir uns wieder ein Kind vor. Das nackte Kind wird betatscht, seine Genitalien werden betatscht. Es werden ihm Schmerzen zugefügt. Es wird zu Oralbefriedigung des diabolischen Erwachsenen gezwungen. Dem Kind wird endlose Qual zugefügt. Von einem perversen, diabolischen Erwachsenen. Einem Vater, einem Priester, einem Lehrer, einem Erzieher.

Stellen wir uns die vielfach erzwungene, staatlich erzwungene „frühkindliche Sexualerziehung“ in Vorschul- und Grundschulalter vor. Eine „Sexualerziehung“, die auch vor der „Transidentität“ nicht Halt macht. Die gnadenlos, verantwortungslos über die Seele der Kinder hinweg galoppiert, die keinerlei Rücksicht auf die gesunde Schamgrenze der Kinder nimmt. Um eigene Ideologien und eigene Bedürfnisse der zuständigen Erwachsenen schamlos durchzupeitschen. Die die Seele der Kinder und ihre Intimität missbrauchen.

Für diese alle fand Jesus nur wenige, aber treffende Worte: es wäre besser, ihnen einen Mühlstein um den Hals zu hängen und sie in die Tiefen des Meeres zu versenken (Mt 18,6; Mk 9,42; Lk 17,2; https://www.feinschwarz.net/jesus-und-die-kinderschaender/).

Mittendrin aber, unter all diesen unzählig Leidenden, ist er selbst:
JESUS von NAZARETH.

Der nackt Gekreuzigte

Mehrere zeitgenössische Berichte, die auf historischen Quellen basieren, weisen auf die Nacktheit der gekreuzigten Menschen hin. So schreibt Publik-Forum, dass der „römische Strafvollzug die Nacktheit des Gemarterten … benutzte“, um diesen eigens noch einmal zu demütigen (Publik-Forum, 2000).

Auch Meyers Konversations-Lexikon benennt rund 100 Jahre früher die Nacktheit der Gekreuzigten, die zur Hinrichtungsprozedur gehörte, wie folgt:

„Mittels des Querholzes (patibulum) wurde der Verurteilte nackt an dem etwa 21/2 m hohen Pfahl (crux) emporgezogen, an dem das Patibulum befestigt war, dann wurden Hände und Füße angenagelt“ (Zeno.org, 1905).

Ausführlich, gleichzeitig aber auch von ausgesprochener Feinfühligkeit widmet sich der von mir oben zitierte Theologe David Tombs diesem Thema. Er stellt die Kreuzigung nicht nur in den historischen Gesamtkontext, vor allem auch in jenen römisch-patriarchaler Kulturgeschichte; er schenkt den historischen Hintergründen, in die Jesus eng eingebunden war, wie auch Jesus selbst verstärkte Aufmerksamkeit:

„Das Opfer wurde an ein hölzernes Kreuz gebunden oder genagelt, um seine öffentliche Demütigung zu maximieren und einen Kontrast zwischen der Schande des Opfers und der Gewalt der Reichsmacht herzustellen…“

Dabei „war die Wahrnehmung der sexuellen Demütigung des Opfers durch eine breite Öffentlichkeit oft ein bedeutender Teil dieser Erniedrigung (Lk 23,35: „Und das Volk stand da und sah zu…“). Vor diesem Hintergrund kann die Kreuzigung Jesu mit Blick auf eine verstörende Frage betrachtet werden: in welchem Ausmaß schloss die Folter und Kreuzigung Jesu eine Form sexueller Gewalt ein?

Im Rahmen seiner Betrachtungen zur Kreuzigung führt Tombs noch einmal den Lesern die Auspeitschung Jesu plastisch vor Augen und nimmt sowohl bei dieser Darlegung, als auch bei der Kreuzigung die sexuelle Komponente der Misshandlungen Jesu in den Blick:

Ein erwachsener Mann wurde zur Geißelung vollständig aus- und dann auf beleidigende Weise wieder angezogen, um von einer großen Gruppe von Soldaten verhöhnt, geschlagen und bespuckt zu werden. Anschließend wurde er wieder entkleidet (so in Markus 15,20 und Matthäus 27,31) und wurde für seinen Weg durch die Stadt erneut angezogen – nun bereits zu schwach, um sein eigenes Kreuz zu tragen.

Schließlich wurde er zum dritten Mal ausgezogen und vor einer Schar von höhnenden Zuschauern nackt zum Sterben aufgestellt.“

Die Kreuzigung nochmals explizit herausstellend verweist David Tombs im Besonderen auf die mit ihr verknüpften Terrorbotschaft der römischen Besatzungsmacht und die Demonstration der Gewalttätigkeit maskulin verstandener Herrschaft:

„… In einer patriarchalen Gesellschaft, in der Männer gegeneinander antraten, um Männlichkeit als sexuelle Macht über andere darzustellen, vermittelte die öffentliche Zurschaustellung des nackten Opfers durch die ‚Sieger‘ den Zuschauern und Passanten eine deutliche Botschaft sexueller Dominanz. Das Kreuz präsentierte das Opfer als jemanden, der – zumindest metaphorisch – entmannt worden war. Je nach Körperhaltung, in der das Opfer gekreuzigt wurde, konnte die Zurschaustellung der Genitalien besonders hervorgehoben werden. Sowohl (der jüdische Historiker) Flavius Josephus, als auch der römische Historiker Seneca d. J. bezeugen, dass die Römer bei Kreuzigungen enthusiastisch mit verschiedenen Körperhaltungen experimentiert hätten…“

Und Jesu Leiden wurde fortgeführt, Folter und Kreuzigungen gingen weiter.

Etwas mehr als 30 Jahre nach Jesu Kreuzigung – so berichtete Flavius Josephus – ließ der römische Landpfleger Judäas, Gessius Florus (64-66 n.Chr.), dessen Grausamkeit die seiner Vorgänger weit übertroffen hatte, „im Vorfeld der Revolte von 66 n.Chr.“ den Tempelschatz plündern und „als Reaktion auf die darauffolgenden Unruhen an einem einzigen Tag 3600 (jüdische) Männer, Frauen und Kinder geißeln und kreuzigen…“ (vgl. Tombs).

Männer, Frauen und Kinder! Frauen und Kinder! Und heute?

Umfassendes Nachwort

Martern, Schänden – eine Erläuterung

Beide Wörter sind im deutschen Sprachgebrauch z. T. veraltet. Martern, am ehesten im bayerischen Sprachraum noch gebräuchlich, bedeutet: foltern, quälen, peinigen, misshandeln, schinden.

Schänden ist betreffs des sexuellen Missbrauchs gleichbedeutend mit dem Verb missbrauchen; das Wort schänden sagt jedoch mehr aus. Es drückt darüber hinaus die Entwürdigung eines Menschen aus, die mit dem sexuellen Missbrauch einhergeht.

Zur Nacktheit des gekreuzigten Jesus

Meine behandelte Fragestellung orientiert sich eng an den Texten der Evangelien sowie an historischen Berichten zur Kreuzigung und vergleichend dazu an zeitgenössischen Folterberichten.

Künstlerische Gestaltungenim Jahr 2024

Meine behandelte Fragestellung hat nichts mit jenen Darstellungen des Gekreuzigten zu tun, wie sie aktuelle, „moderne Künstler“ den Gläubigen seit einiger Zeit und mit ausdrücklicher Genehmigung des zuständigen (möglicherweise pervers orientierten) Klerus als „provokative“ Nacktheit und damit verbundenen Handlungen darzubieten pflegen. Es sind Darstellungen, die, wie in der gegenwärtigen Ausstellung in St. Ignatius in Carpi/Norditalien, religiöse Gefühle verletzen, die wie eine Verhöhnung Christi anmuten – gegenteilige Erklärungsversuche können nicht den Eindruck negieren, Wiederspiegelung der aktuell hofierten, fehlgeleiteten Sexualisierung des Menschen und deren ebenso fehlgeleiteten, ja lästerlich-perversen, „sakralen“ Überhöhung darzustellen.

Wie anders sollte der „Rippen brechende“ römische Soldat verstanden werden, der während dieser, seiner Handlung, sein Gesicht auf die Scham des unter ihm liegenden toten Jesus drückt? (Siehe die Ausstellung „Gratia Plena“ von Andrea Saltini im Diözesanmuseum Carpi in Norditalien https://katholisches.info/2024/03/04/gotteslaesterliche-ausstellung-im-dioezesanmuseum/; https://www.katholisch.de/artikel/51574-aufregung-in-italien-wegen-anzueglichem-gemaelde-von-jesus).

Oder wollte der Künstler auf die sexuelle Demütigung Jesu in der ihm eigenen, sexuell-provokativen Konnotation (er soll der LGBT-Lobby nahestehen) verweisen, einer sexuellen Konnotation, die sich dem Betrachter jedoch geschmacklos und ehrfurchtslos aufdrängt – unabhängig davon, dass der „Rippen brechende“ Soldat sowohl den Passionsberichten (Joh. 19,33-34; 38-40), als auch in Teilen historisch überlieferten Gegebenheiten widerspricht (Kreuzigung, Wikipedia).

Man vergegenwärtige sich an dieser Stelle die Überlieferung des Johannesevangeliums 19,33 – 19,40 zur Kreuzabnahme, die das ehrerbietende Verhalten der Freunde Jesu ihm als Toten gegenüber und ihren ehrfurchtsvollen Umgang mit seinem toten Leib beschreibt:

 „Als sie (die Soldaten) aber zu Jesus kamen und sahen, dass er schon tot war, brachen sie ihm die Beine nicht“ (Joh. 19,33), „sondern einer der Soldaten stieß mit einer Lanze in seine Seite, und sogleich kam Blut und Wasser heraus“ (19,34) …

… „Danach bat Josef von Arimathäa … Pilatus, dass er den Leichnam Jesu abnehmen dürfe. Und Pilatus erlaubte es. Da kam er und nahm den Leichnam Jesu ab (19,38) …

Es kam aber auch Nikodemus … und brachte Myrrhe gemischt mit Aloe, etwa hundert Pfund.

Da nahmen sie den Leichnam Jesu und banden ihn in Leinentücher mit Spezereien, wie die Juden zu begraben pflegen“ (19,39-40).

In der Epoche der Renaissance

Der nackt Gekreuzigte hat in seiner Realität, einer brutalen Realität, aber ebensowenig mit Erotik zu tun, wie es der BR in seinem Titel eines Ausstellungsberichtes suggerierte und sich damit auf die feinsinnige, nackt gekreuzigte Christusfigur von Michelangelo bezog, die in der Ausstellung zu sehen war (https://www.br.de/nachrichten/kultur/splitternackt-am-kreuz-darf-jesus-erotisch-sein,TaXkKuf Sonderausstellung „Verdammte Lust” im Diözesanmuseum Freising 2023).

Auch wenn Michelangelo, der einen solchen Christus schuf – “sehr sensibel und fein gearbeitet” und als „extrem anrührendes Bildwerk“ (Chr. Kurzeder, Freising) sowie tief verinnerlicht –, diesen als Künstler seiner Zeit, der Zeit der Renaissance, gestaltete, ließ er seine große Ehrfurcht vor Christus und seinem Leid in seinem Werk nicht vermissen (die historische Realität der Kreuzigungen dürfte ihm bekannt gewesen sein). Michelangelo schuf ihn in der Zeit, in der man die Schönheit des menschlichen Leibes und damit den Menschen in seiner Ganzheit, wie er von Gott erschaffen wurde, wiederentdeckte, deren Künstler in Anlehnung an die ebenso wiederentdeckte Kunst der Antike den Menschen formvollendet in seiner Leiblichkeit, oft in seiner Kraft und Erotik gleichermaßen, zugleich aber auch als Ausdruck von Seele und Geist darstellten.

Michelangelo zeigt den nackten Christus am Kreuz jedoch in seiner anderen menschlichen Realität: in seiner Gebrechlichkeit und seinem Ausgeliefertsein. Dem er dennoch, von seiner Grundüberzeugung für seine Kunst getragen und als eine Art Paradoxon, die Schönheit des Leibes nicht absprach. Denn Michelangelo war zeitlebens ein Künstler, der nicht nur Ehrfurcht vor Gott, seiner Schöpfung und dem Menschen hatte, sondern der gleichzeitig, von der griechisch-antiken Philosophie inspiriert, das Geistige als „höchstes Prinzip“ allem „sinnlichen Erfahren“ übergeordnet betrachtete.

Jesus Christus – der Geschändete am Kreuz

Doch – die Nacktheit eines Gekreuzigten ist weit entfernt von feinsinniger Erotik. Sie ist auch weit entfernt von einem sexuell provokativ-assoziierten Spiel „künstlerischer Freiheit.“

Sie stellt eine weitere, gezielt angestrebte Ent-Würdigung und Ent-Ehrung, eine weitere massive Demütigung eines gemarterten Menschen bis hin zu seiner sexuellen und damit seiner intimsten und verletzlichsten Identität als Mensch dar.

Und Jesus von Nazareth, der Sohn Gottes, der Christus, war Mensch.

Und als Mensch gedemütigt, gequält, geschändet. Und damit den Menschen nahe in ihren Qualen, ihrem Leid. In allen Qualen, auch im allerschlimmsten Leid.

Aber für die Gläubigen ist er weit mehr. Er ist der Erlöser, der Erlöser der Menschheit.

Und er ist „wahrhaft Gott und wahrhaft Mensch“ (Glaubensbekenntnis Chalcedon, 451).

Die Darstellungen Jesu am Kreuz

Vor dem geschichtlichen Hintergrund des nackt gekreuzigten Gottessohnes sowie aller anderen Opfer stieß ich hin und wieder auf die z.T. kritische Anmerkung, dass die figurative Gestaltung Jesu am Kreuz in Kunst und Volkskunst mitnichten auf diesen Aspekt des Martyriums verweise. Denn Jesus wird stets mit einem Lendentuch über den Genitalien dargestellt.

Der Theologe Tombs sieht dafür einen hoch emotionalen Grund: „Das sexuelle Element der Folter wird in künstlerischen Darstellungen der Kreuzigung, die Jesus mit einem Lendenschurz zeigen, heruntergespielt. Diese Bilder distanzieren uns vom biblischen Text, vielleicht, weil das sexuelle Element zu verstörend ist, um es zu konfrontieren.“

Unabhängig aber von manchen psychologisch konnotierten, durchaus auch manchen abstrusen Begründungen für die Kritik an Jesu „Bekleidung“, unabhängig auch von der historischen, unerträglichen Realität, die ein wissender Christ immer vor Augen haben wird, möchte ich, insbesondere für die Kreuzigungsdarstellungen in Alltags- und Volkskunst, folgendes festhalten:

die Kreuzigungsdarstellungen Jesu mit Lendentuch sind gerechtfertigt.

Sie verdeutlichen Achtung und Ehrfurcht, aber auch Feingefühl dem Gemarterten gegenüber.

Ausgewählte Literatur zum Thema

Eine grundlegende Arbeit ist die folgende:

Tombs, David: „Crucifixion and Sexual Abuse“, Otago 2019

Tombs, David: „Kreuzigung und Sexuelle Gewalt“

Deutsche gekürzte Fassung. Übersetzung: Franka Winter

Herausgeber der Reihe: David Tombs

https://ourarchive.otago.ac.nz/bitstream/handle/10523/9924/Tombs%202019%20-%20Kreuzigung%20und%20Sexuelle%20Gewalt.pdf?sequence=1&isAllowed=y

Das Titelbild der deutschen Ausgabe zeigt die 10. Station eines modernen, sehr berührenden Kreuzwegs in der Heilig-Kreuz-Kirche (Kreuzerhöhungskirche?) in Sisak in Kroatien: „Jesus wird seiner Kleider beraubt.“

Tombs, David: “Crucificação e abuso sexual“, Estudos Teológicos, Vol. 59, Nr. 1 (Juli 2019), S. 119–32. © Centre for Theology and Public Issues, University of Otago, 2019. Portugiesische Übersetzung.

Zugrundeliegende Forschungen der Publikation David Tombs‘

Tombs, David: Crucifixión, terrorismo de Estado y abuso sexual (Kreuzigung, Staatsterror und sexueller Missbrauch), 2018

Figueroa Alvear, Rocío; Tombs, David: „Recognising Jesus as a Victim of Sexual Abuse: Responses from Sodalicio Survivors in Peru“ (Jesus als Opfer sexueller Gewalt erkennen: Antworten von Sodalicio-Überlebenden in Peru), Forschungen ab 1999, https://ourarchive.otago.ac.nz/handle/10523/8976

Im Schlusswort der deutschen Übersetzung widmet sich David Tombs den „Theologische(n) und seelsorgerische(n) Perspektiven“ seiner Arbeit:

„… Sowohl unser Widerstand als auch unsere Offenheit dieser Fragestellung gegenüber können uns zu neuen Einsichten und Erkenntnissen führen.

…auf theologischer Ebene … kann … die Konfrontation mit der Möglichkeit sexueller Gewalt im Rahmen der Passion Christi ein christliches Verständnis von Gottes Solidarität mit den Machtlosen vertiefen. Sexuelle Gewalt ist eine destruktive Geltendmachung von Macht…

Die hier vertretenen Ansichten – dass Jesus durch die von ihm erlittene sexuelle Demütigung ein Opfer sexueller Misshandlung … und … ein Opfer sexueller Übergriffe gewesen sein mag – sind tief verstörend. Sie können jedoch Einsichten in ein tieferes christliches Verständnis von einem Gott bieten, der wahrhaftig solidarisch mit den Machtlosen ist und die schlimmsten Übel der Welt erleidet

… Auf seelsorgerischer Ebene könnte die Auseinandersetzung mit der Möglichkeit sexueller Gewalt in der Passion Christi heutigen Opfern von Folter und sexueller Gewalt praktische Hilfe bieten…“

Weitere Literatur

– Kügler, Joachim, Jesus als Opfer sexuellen Missbrauchs? Anmerkungen zu Gender-Aspekten von Leiden und Sterben Jesu im patriarchalen Kultur-Code des Christentums, Bamberg 2020, https://fis.uni-bamberg.de/server/api/core/bitstreams/2b181f27-dd6e-4ce7-bb15-6ad13a7a47b3/content

– Mayordomo, Moisés, Männliches Sterben am Kreuz? Frühchristliche Gender-Variationen zum Sterben Jesu.

Als Ergänzung zu den Darlegungen des Bamberger Theologen Kügler ist dieser Artikel des Basler Theologen Mayordomo äußerst interessant, der nichts mit den heute verstandenen, ins Absurde abdriftenden Gender-Fragen zu tun hat: er behandelt die im alten Rom verstandene Männlichkeit bzw. die männliche Kultur Roms bis zum „mannhaften Sterben“ unter vergleichender Einbeziehung des Kreuzigungstodes Jesu und der Evangelientexte (https://www.vr-elibrary.de/doi/full/10.13109/9783666560668.127)

(In beiden Aufsätzen würde ich jedoch das Wort Gender durch das Wort Geschlecht oder Geschlechtlichkeit ersetzen).

https://de.wikipedia.org/wiki/Kreuzigung

http://www.zeno.org/Meyers-1905/A/Kreuzigung

https://www.publik-forum.de/publik-forum-07-2000/der-am-kreuz-gefoltert-wurde-starb-nackt

https://www.soulsaver.de/blog/die-kreuzigung-jesus-war-die-brutalste-folterung/

https://www.feinschwarz.net/wurde-jesus-sexuell-missbraucht/

https://www.feinschwarz.net/jesus-und-die-kinderschaender/

– „Hätten Sie es gewusst? Weshalb waren die römischen Soldaten so an dem inneren Kleid oder Untergewand von Jesus interessiert?“ (https://wol.jw.org/de/wol/d/r10/lp-x/2009486))

Kommentarregeln: Bitte keine beleidigenden oder strafbaren Äußerungen. Seid nett zueinander. Das Leben ist hart genug.

2 Kommentare

  1. Ja, argumentiert. Ohne historische Grundlagen?
    Laut meiner historischen Recherchen – u. ich wälzte einiges an historischer Literatur – wurden die Verurteilten nackt gekreuzigt. Was auch Josephus u. Seneca d.J. bestätigten. An einer Stelle las ich, dass die Römer Juden extra demütigen wollten.
    Aber wie dem auch sei – Jesus wurde jedenfalls nackt gegeißelt. Das sagt schon viel aus. Fragen Sie mal Ihren Erzbischof (ist es nicht Kard. Schönborn?), wie er sich fühlen würde, wenn er i. d. Klauen von Folterknechten wäre u. diese ihn nackt auszögen…? Vor hunderten von Leuten?

  2. Es wird argumentiert, daß in Judäa Hingerichtete mit Lendenschurz gekreuzigt wurden, weil das jüdische Volk gymnophob war. So wollte man (für die Römer) sinnlose Empörung vermeiden.

Kommentarfunktion ist geschlossen.