Von Peter Helmes
Das scheinbar so ruhige Kasachstan ist nun auf einmal in den Mittelpunkt der Weltöffentlichkeit gerückt. Hauptauslöser für die Unruhen waren vermutlich höhere Gaspreise. Und in dem Land gibt es eine enorme Ungleichheit, die Unzufriedenheit mit der Regierung ist groß. Die Dürre im vergangenen Jahr, ethnische Gegensätze sowie die Schließung der Grenze zu China aufgrund der Pandemie haben die Lage weiter verschärft.
Es geht nicht nur um Gas, im Grunde hat sich alles verteuert, und das Gefälle zwischen Arm und Reich nimmt zu. Eigentlich hätte die Lage im Land bereits früher eskalieren müssen. Neben wirtschaftlichen Gründen hierfür gibt es auch politische. Die Unterdrückung ist enorm.
Aber: Kasachstan galt in den letzten Jahren eigentlich als relativ stabil. Umso überraschender sind diese Unruhen. Allerdings sieht es bis jetzt danach aus, daß die Menschen lediglich ihren Frust gegen das Regime äußern und keine konkreten Forderungen haben. Der Aufstand in Kasachstan – mit einer noch unbekannten Zahl von Opfern und Toten(!) – ist sicher nicht nur die Folge der Preiserhöhung beim Gas. Er zeigt vielmehr die allgemeine Unzufriedenheit der Bürger darüber, daß ihr Lebensstandard nicht so hoch ist, wie er aufgrund des Reichtums ihres Landes an Bodenschätzen sein könnte. Hinzu kommt aber eben auch das unerfüllte Versprechen von mehr Demokratie; denn in Kasachstan regiert eine einzige Partei, und es gibt keine politische Opposition. Das sind die Zutaten für eine soziale Krise, die das Zeug dazu hat, auch auf andere nicht eben stabile Staaten in der Region überzugreifen
Die Proteste in Kasachstan zeichnen sich zwar durch ihren Netzwerkcharakter aus. Aber trotz der klaren Organisation der aktiv auftretenden Personen hat der Protest keinen eindeutigen Anführer. Infolgedessen haben die Behörden niemanden, mit dem sie konkret verhandeln könnten. Das wird immer bedenklicher, da sich der Protest gegen den Anstieg der Gaspreise innerhalb weniger Stunden in eine politische Revolte verwandelt hat. Alles deutet auf eine schwere Krise hin. Von Moskau aus betrachtet, könnte eine Militärintervention zur Unterstützung des wackeligen kasachischen Regimes Präsident Putin offiziell wieder in die ersehnte Rolle des Restaurators des Sowjetimperiums bringen.
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Einschub:
Hintergrundinformationen
„…Es handelt sich nicht nur um einen Straßenprotest gegen hohe Stromrechnungen: Der Aufstand, der Kasachstan seit dem 5. Januar in Aufruhr versetzt, sei inzwischen eine echte politische Krise, die vor allem von der neuen obere Mittelschicht vorangetrieben werde und eventuell auch zu antiwestlichen Kampagne führen könne.
Dies betont der italienische Pater Edoardo Canetta, der zwanzig Jahre Missionar in Kasachstan wirkte, davon fünf Jahre als Generalvikar für Zentralasien, gegenüber dem Fidesdienst:
„Bis letztes Jahr“, stellt er fest, „kostete der Kraftstoff in Kasachstan 40 Cent pro Liter, ein Preis, der in Italien schon lange undenkbar ist. Heute haben sich diese Preise verdoppelt, und gleichzeitig hat die Inflation sehr hohe Spitzenwerte erreicht. All dies hat zu gewalttätigen Protesten der Mittelschicht geführt: Diese Bürger fühlen sich am meisten betroffen, da die Armen ohnehin keine Autos besitzen. Die Menschen können nicht verstehen, warum ein Land, das auf Gas und Öl „schwimmt“, selbst so viel für Öl und Gas bezahlen muss“.
Dieses Phänomen, erklärt Pater Canetta, sei auf die mehrjährigen Verträge zurückzuführen, die unmittelbar nach dem Ende der UdSSR zwischen Kasachstan und den großen Öl- und Energiekonzernen geschlossen wurden:
„Als die Sowjetunion zusammenbrach, befand sich Kasachstan, wie alle Länder der Region, in einem Zustand absoluter Armut. Deshalb hat sie sich auf Verträge geeinigt, die noch heute und für mehrere Jahre gültig sind und nach denen nur ein sehr geringer Prozentsatz der Gewinne aus der Förderung an das Land geht. Es sind also die großen ausländischen Unternehmen, die sich durch diese Tätigkeit auf kasachischem Gebiet bereichert haben, die andererseits Investitionen unterstützt und Technologie und Forschung eingebracht haben.
Die kasachische Bevölkerung versteht jedoch den Grund für diese Vereinbarungen nicht und beansprucht weiterhin das Eigentum an den Vorkommen. Aus diesem Grund ist es, wie auch immer die Proteste dieser Tage verlaufen, ist es gut möglich, dass die Schuld auf die Ausländer abgewälzt wird und eine nationalistische Kampagne, insbesondere gegen den Westen geführt wird“.
Die jüngsten Unruhen begannen in den frühen Morgenstunden des 5. Januar und betrafen mehrere kasachische Städte, sein Epizentrum war jedoch Almaty, die Finanzhauptstadt im Sücen Kasachstans.
Dutzende von Demonstranten wurden bei den Zusammenstößen verletzt oder getötet, 18 Polizeibeamte verloren ihr Leben und mehr als 2.000 Menschen wurden festgenommen. Einige Protestierer besetzten und plünderten Fernsehstationen und Flughäfen, was zur Aussetzung von Flugverbindungen führte.
Seit den ersten Stunden der Unruhen ist das Land isoliert: Die Telefonverbindungen sind prekär und die Internetverbindung ist fast vollständig ausgefallen, wie Pater Guido Trezzani, Leiter der Caritas in Kasachstan, bestätigt:
„Seit zwei Tagen“, so der Missionar, „wurde aufgrund der Unruhen, die in verschiedenen Teilen des Landes ausgebrochen sind, der Ausnahmezustand verhängt. Die erste Folge ist, dass das Internet und alle damit verbundenen Dienste blockiert werden. Gelegentlich ist es möglich, E-Mails zu nutzen, aber andere Dienste wie Skype und soziale Medien wurden blockiert…“
Ende des Einschubs.
(Quelle: Fidesdienst, zitiert nach Kath. Missionare zur Lage in Kasachstan: Es geht nicht nur um den Spritpreis – Christliches Forum)
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Stichwort Putin – Offene Fragen
Wer sind diese bewaffneten Protestierenden, welchen Gruppen gehören sie an, und was sind ihre Forderungen? Interessant ist hierbei ein Treffen von Nachfolgestaaten der Sowjetunion in Sankt Petersburg Ende des Jahres: Dort kam Kreml-Chef Putin zuerst mit dem ehemaligen kasachischen Präsidenten Nursultan Nasarbajew zusammen und dann mit dessen Nachfolger Tokajew. Putin habe Ansprüche auf Kasachstan gestellt, hieß es danach. Nasarbajew habe diese Forderung abgelehnt, Tokajew dagegen habe zugestimmt. Was ist nun mit Nasarbajew? Steht er unter Hausarrest, hat er das Land verlassen? Vielleicht hat er sich an die Spitze des ‚bewaffneten Widerstands gegen die russische Besatzung‘ gestellt. Solange all diese Fragen nicht beantwortet sind, wird man nicht verstehen, was in Kasachstan passiert.
Es ist zu hoffen, daß am Ende das kasachische Volk als Gewinner aus den Unruhen hervorgeht. Die Unruhestifter planen – nach meinem Wissensstand von heute (7.1.22) – offensichtlich keine Machtübernahme und stellen keine politischen Forderungen. Niemand weiß, ob die Proteste koordiniert werden – und wenn, von wem. Präsident Tokajew gibt die Schuld für die Gewalt „internationalen Terroristen“. Er hat die Armee losgeschickt und Hilfe seiner Bündnispartner angefordert. Erste russische Truppen sind bereits in Kasachstan eingetroffen, angeblich um strategisch wichtige Objekte zu schützen. Eine andere Frage ist, wie sie die Probleme lösen wollen, die zum Ausbruch der Proteste geführt haben.
Das kasachische Regime wirft sich damit aus Angst vor dem eigenen Volk in die Arme des Kreml. Dieser wird für seine „Hilfe“ einen Preis verlangen, der noch lange nachwirken dürfte. Putin wird sich seine Hilfe etwas kosten lassen – und wird das Land nicht so schnell wieder verlassen. Putin ist bekannt dafür, daß er Gelegenheiten ergreift, wenn sie sich bieten. Offenbar sieht er die Unruhen in Kasachstan als Chance, um das größte Land Zentralasiens für absehbare Zeit fest an Russland zu binden.
Moskau sieht sich immer noch befugt, in seiner Nachbarschaft militärisch einzugreifen, wenn es dies für nötig hält. Ja, formell ging alles mit rechten Dingen zu: Der kasachische Präsident Kasym-Schomart Tokajew rief die „Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (ODKB)“ um Unterstützung an. Vom Ausland ausgebildete terroristische Banden steckten hinter den Unruhen, sagte Tokajew – allerdings ohne die geringsten Belege dafür vorzulegen. Die in Moskau beheimatete Organisation sagte dennoch zu.
Der ODKB gehören außer Russland und Kasachstan auch Weißrussland, Armenien, Kirgistan und Tadschikistan an. De facto werden deren „Friedenstruppen“ aber russisch sein. Zu groß ist das politische und militärische Ungleichgewicht zwischen den Mitgliedsländern, als daß man von gleichwertigen Partnern sprechen könnte. Die ersten Truppen wurden denn auch aus Moskau eingeflogen.
Während die Polizei von Angriffen extremistischer Kräfte spricht, zeigen Videos in sozialen Medien den Aufmarsch von Soldaten und Schüsse auf Demonstranten. Gleichzeitig kommt es zu massiven Unruhen und Plünderungen von Geschäften. Dutzende Menschen sollen getötet worden sein, außerdem gab es offenbar hunderte Verletzte. Tokajew hat inzwischen eine Rücknahme der Preiserhöhung versprochen. Geholfen hat es ihm nichts. Auch die Entlassung der Regierung hat nicht zu einem Ende der Proteste geführt.
Die an die Bündnispartner gerichtete Bitte um Unterstützung ist ein riskantes Manöver des kasachischen Präsidenten. Die Inanspruchnahme der Hilfe Moskaus ist nicht nur ein stillschweigendes Eingeständnis der Schwäche Tokajews, sondern dürfte auch viele Menschen in einem Land verärgern, das auf seine Außenpolitik stolz ist. Das Bündnis der postsowjetischen Staaten hat bislang noch nie in eine Krise eingegriffen, aber Russland, wie auch Kasachstans anderer mächtiger Nachbar China, will Stabilität an seinen Grenzen und nicht, daß Straßenproteste eine weitere Regierung in der Region stürzen.
Dieses Szenario der Instabilität beunruhigt nicht nur das Land. Aufmerksam verfolgen die Nachbarstaaten, daß Russland mit der Entsendung von Friedenstruppen ein deutliches Signal an den Westen ausgesandt hat, sich nicht einzumischen. Ähnlich wie Russland ist auch China sehr an einer Rückkehr zur Normalität im Nachbarland Kasachstan gelegen; denn Zentralasien ist eine wichtige strategische Drehscheibe der neuen Seidenstraße.
Kasachstan ist ein besonderes postsowjetisches Land, das vielleicht als einziges den Weg einer relativ erfolgreichen autoritären Modernisierung beschritt und gleichzeitig relativ lange enge, vertrauensvolle Beziehungen zu Russland unterhielt. Nicht zufällig wird dort das lateinische Alphabet verwendet, und nicht zufällig ist Kasachstan das einzige zentralasiatische Land, das über 50 Prozent seiner Exporte in die EU leitet und in dem fast 80 Prozent der Auslandsinvestitionen aus den Vereinigten Staaten und europäischen Ländern kommen. Heute steht dieses Land vor einer großen historischen Entscheidung, und 2022 dürfte für den postsowjetischen Raum nicht weniger wichtig sein wird als 2003 mit der georgischen ‚Rosenrevolution‘ oder 2014 mit der ukrainischen Revolution.
Es wird zudem deutlich, daß Moskau mit dem Einsatz seiner sogenannten ‚Friedenstruppen‘ auch geopolitische Ziele verfolgt. Der gewiefte Opportunist Putin nutzt die Schwäche der kasachischen Autokraten geschickt für sich aus. Es ist damit zu rechnen, daß die russischen Truppen Kasachstan nicht so schnell wieder verlassen werden. Moskau nutzt seine ‚Friedenstruppen‘ in zahlreichen Republiken der ehemaligen Sowjetunion gnadenlos für seine geopolitischen Interessen. Wenn die Lage in Kasachstan einmal unter Kontrolle gebracht ist, wird sich das Land wohl in diese Liste einreihen.
Das Eingreifen der russischen Truppen ist alles andere als selbstlos. Bei der Gelegenheit will Russland gleich einige Forderungen durchsetzen. Das wird in den Erklärungen der Chefin der Kreml-nahen Medien Sputnik und Russia Today klar: Etwa die Anerkennung der Krim als Teil Russlands durch Kasachstan, die Einführung des Russischen als zweite Amtssprache, die Rückkehr zum Kyrillischen und die Zulassung russischer Schulen.
Manch einer wird sich noch erinnern, wie russische Einheiten im vorigen Jahr den Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan um Bergkarabach beendet haben. Auch diesmal sorgt Russland für Ordnung. Das kann man nicht pauschal als Verbrechen verurteilen. Doch das Problem liegt darin, daß Russland nicht weiß, wo es anfangen darf und wo es aufhören muß. Sein Einschreiten in Bergkarabach und in Kasachstan störten den Westen nicht. Doch würde das auch im Falle Georgiens, der Ukraine oder gar des Baltikums gelten? Darüber müssen die USA und die Nato mit Russland verhandeln.
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