Putin auf dünnem Eis

(www.conservo.blog)

Von Peter Helmes

Vladimir Putin läßt sich nicht über den Tisch ziehen.
Kremlin.ru, CC BY 4.0, via Wikimedia Commons

Der russische Truppenaufmarsch an der ukrainischen Grenze gilt als die schwerste Krise in den Ost-West-Beziehungen seit dem Ende des kalten Krieges. Zwar sind Scharmützel an der Grenze denkbar, eine regelrechte Invasion bis nach Kiew ist allerdings weniger wahrscheinlich. Das würde zahlreiche Menschenleben fordern. Außerdem würde ein solcher Schritt auch in Russland und anderen ehemaligen Sowjetrepubliken schlecht aufgenommen werden. Vor allem aber könnte damit erst recht die Zahl der Staaten wachsen, die an die Tür der NATO klopfen.

Anderseits fürchtet Wladimir Putin weniger das Ausland, sondern eher die Sehnsucht der Menschen nach Freiheit. Er erlebt zwar eine Bedrohung durch die Ukraine, aber die ist nicht militärischer Natur. Es geht stattdessen um die Sorge, daß das Nachbarland seine Demokratie zu etwas entwickeln könnte, das auch die Russen inspiriert.

Das russische Imperium wurde mit dem Untergang der Sowjetunion weit nach Osten zurückgedrängt. Die osteuropäischen Staaten des Warschauer Paktes und die früheren Sowjetrepubliken im Baltikum traten der Nato und der EU bei. Die Ukraine wandte sich ebenfalls dem Westen zu.

Aus russischer Warte ist das kein Gleichgewicht und fair erst recht nicht. Seit dem Kollaps der Sowjetunion war klar, daß ein erstarktes Russland auf eine Revision hinarbeiten würde. Inzwischen ist es so weit. Das Land ist wieder ein Faktor, mit dem man rechnen muß.

Der Kreml wird nicht ruhen, sein strategisches Vorfeld an der Bruchlinie von Ost und West zu vergrößern.

Putin träumt davon, die Sowjetunion wiederaufzubauen.

Denn ihr Zerfall ist ihm zufolge „die größte geopolitische Katastrophe des zwanzigsten Jahrhunderts“. Aber bereitet er sich wirklich auf einen Krieg mit der Ukraine vor? Dem scheint nicht so zu sein. Putin ist ein mörderischer Diktator ohne Glauben und Gesetz – aber rational. Er möchte Bidens innenpolitischen Probleme ausnutzen, die dessen Handlungsfreiheit auf internationaler Ebene einschränken – und damit Bidens Möglichkeit, in der Ukraine einzugreifen. Um die Krise zu entschärfen, muß eine für Putin gesichtswahrende Lösung gefunden werden, mit der sich sowohl Russland als auch die Nato rühmen können.

Aber trotzig läßt Putin die Muskeln spielen. Ob sie stark genug sind, wird sich zeigen. Der „neue“ Ost-West-Dialog (Nato-Russland-Rat über die Ukraine-Krise) erlaubt noch kein Urteil, aber macht den Blick für eine Beobachtung frei:

Wie im Kalten Krieg suchen die Russen in opportunistischer Weise nach Schwachstellen und versuchen, den Westen mit vagen und unannehmbaren Forderungen zu spalten. Trotz der berechtigten Furcht vor russischer Arglist ist es richtig, daß Amerika weiter auf Gespräche setzt. Das gibt Zeit, um sich mit den Verbündeten abzustimmen und Moskau den Preis einer Invasion vor Augen zu führen.

Bei möglichen Sanktionen geht es um den vollständigen Ausschluß Russlands von globalen Finanztransaktionen, was den Ost-West-Handel lähmen würde, sowie um ein generelles Verbot des Exports westlicher Technologie. Eine Unterbrechung der Gaslieferungen nach Europa als Vergeltung wäre für die russische Wirtschaft katastrophal.

Auf der ersten Tagung des Nato-Russland-Rates seit über zwei Jahren wurde im Anschluß daran deutlich, daß eine Annäherung der Standpunkte zwischen der Nato und Russland noch nicht in Sicht ist, zumal die Nato-Mitgliedstaaten untereinander verschiedene Meinung unter einen Hut bringen müssen.

Aber obwohl Wladimir Putin mit der Schwäche Amerikas und Europas gerechnet hatte, stieß er stattdessen auf eine Mauer – mehr noch: mit seinen Forderungen trug er sogar zur Einigung des Westens bei. Mit der Drohung, in die Ukraine einzumarschieren, provoziert der russische Präsident nicht weniger als den Umsturz der gesamten Sicherheitsordnung, die sich seit dem Ende des Kalten Krieges entwickelt hatte. Von so viel Einigkeit des Westens ist Putin überrascht. Er hat sich verkalkuliert und muß nun entscheiden, ob er sich aus der von ihm verursachten internationalen Krise zurückzieht oder ob er trotzdem eine Invasion in die Ukraine wagt – mit dem Preis, daß Russland dann in die Kategorie der Paria-Staaten abrutschen und dort neben Ländern wie Nordkorea und Iran stehen würde.

Und klar wurde auch, daß es wenig wahrscheinlich sein dürfte, daß Russland und die USA zu einem diplomatischen Kompromiß gelangen werden; denn beide haben entgegengesetzte Positionen eingenommen: Moskau will ein weiteres Vordringen der Nato auf ehemals sowjetisches Territorium verhindern, Washington will allen Interessenten die Tür zur Nato offenhalten.

Im Fall eines bewaffneten russischen Angriffs auf die Ukraine drohen die USA mit Sanktionen gegen Moskau. Eine andere Frage ist allerdings, wie wahrscheinlich ein großangelegter Angriff gegen die Ukraine ist. Ein solcher Schritt würde für Russland enorm teuer und würde keinen wirtschaftlichen Gewinn bringen. Das bedeutet, daß zwar weiterhin ein Damoklesschwert über der Ukraine hängt, die Situation aber auch nicht völlig aussichtslos ist.

Es liegt es jetzt an Putin, ob er auf Verhandlungen und Entspannung oder auf Eskalation und Konfrontation setzt. Er weiß, daß seine Forderungen inakzeptabel sind und es absurd ist zu behaupten, die Ukraine stelle eine Bedrohung für Russland dar. Das Gegenteil ist der Fall, und Putin hat die aktuelle Krise zu verantworten. Ein Lichtpunkt ist trotz allem, daß sich die Seiten getroffen haben; denn die letzte Sitzung des Nato-Russland-Rats ist mehr als zwei Jahre her.

In der letzten Woche endete der diplomatische Marathon, bei dem Russland und der Westen in verschiedenen Formaten über die von Moskau geforderten Sicherheitsgarantien diskutiert haben. Russland hat seine selbst gesteckten Hauptziele nicht erreicht: Die USA und ihre europäischen Verbündeten sind nicht bereit, das Recht auf eine künftige Nato-Erweiterung aufzugeben. Und sie beabsichtigen nicht, Truppen und Infrastruktur auf die Positionen von 1997 zurückzuziehen.

Aber Putins Säbelrasseln schmeichelt offensichtlich dem Ego des Kreml-Chefs. Er merkt jedoch nicht, daß er hier die alten, verstaubten Instrumente der Kanonenbootpolitik des Kalten Krieges aus dem Keller kramt – Hauptsache, er sieht sich mit Nato, USA und Europa auf Augenhöhe und Moskau zurück als Player im Weltgeschehen.

Putin ist nicht blind und hat gesehen, ja miterlebt, wie Umsturzbestrebungen zu realen Umstürzen führen können. Eine aufstrebende Demokratie und ein wachsendes Selbstbewußtsein in der Ukraine muß Putin als alarmierend empfinden und lösen bei ihm eine Art Verfolgungswahn aus. So erklärt sich sein Verdikt, er werde „Farbrevolutionen niemals zulassen“. (Gemeint ist die orangefarbene Revolution von Kiew.)

Aber Putins Aktionismus hat der fast „hirntoten“ Nato neues Leben eingehaucht. Jetzt wird sogar in Schweden und Finnland aus Angst vor Moskau über einen Beitritt in die Nato diskutiert. Sollte Russland mit der Besetzung der Ukraine beginnen, wird die Nato darauf jedoch nicht militärisch reagieren. Allein das zeigt, daß die Warnungen Russlands vor einer „Nato-Gefahr“ absurd sind. Allerdings sollte sich Moskau auf harte Sanktionen einstellen.

Und irgendwelche von Russland geforderten Sicherheits-Garantien wird es auch niemals geben – ebenso wenig wie die Garantie eines Nichteintritts der Ukraine zur Nato. Sie wäre auch mit der Souveränität eines selbständigen Staates nicht vereinbar.

In der aktuellen Krise ist es bemerkenswert, daß es der US-Regierung überlassen blieb, dem Kreml mit „verheerenden“ wirtschaftlichen Konsequenzen zu drohen. Europa ist da sehr viel zurückhaltender. Natürlich ist es nie leicht, einen Konsens in der EU zu finden. Im Falle eines russischen Angriffs auf die Ukraine könnte es noch schwieriger werden, da viele EU-Länder – insbesondere Deutschland – von russischem Gas abhängig sind. Die derzeitige Schwäche der EU in der Ukraine-Krise ist bedauerlich und gefährlich für Europa.

Und noch etwas bleibt erwähnenswert: Vor dem Hintergrund der amerikanisch-russischen Gespräche wird wieder einmal deutlich, wie unsicher die neue deutsche Regierung in der Außenpolitik agiert. Diese bewegt sich zwischen Moral und Pragmatismus. Offensichtlich sind Bundeskanzler Scholz und die Grünen uneinig darüber, wie man gegenüber Russland und auch China auftreten soll.

Scholz merkt, daß diese Koalition ein Balanceakt ist. Deshalb perfektioniert er bereits den Stil seiner Vorgängerin. Wie Merkel wählt der Sozialdemokrat jedes Wort mit Bedacht, vermeidet konkrete Aussagen oder schweigt einfach, wenn ein Thema zu heikel wird. Jüngstes Beispiel ist die Debatte um einen politischen Boykott der Olympischen Winterspiele in Peking wegen der Menschenrechtsverletzungen in China. Dabei fordern die Zeiten klare Positionen und einen Schulterschluß.

Die Positionen sind so unvereinbar, daß es eigentlich nicht mehr viel zu besprechen gibt.  Doch gleichzeitig steht das Thema China unsichtbar im Hintergrund. Washington muß Kräfte für die Konfrontation mit Peking mobilisieren; denn ein Kampf an zwei Fronten gleichzeitig gegen Russland und China übersteigt die Kräfte der USA. Das weiß man in Moskau nur allzu gut, und deshalb hat man eine solche Liste mit ultimativen Forderungen aufgestellt.

Wirtschaftssanktionen werden als Antwort auf einen Einmarsch in die Ukraine nur geringe Auswirkung auf Putin haben. Wenn die Ukraine fällt, ist es Europa, das russische Truppen auf seine Grenzen zukommen sieht. Europa wird das Opfer sein, zumal es sich mit seiner Abhängigkeit von russischem Gas in eine extrem schwache Position gebracht hat.

Moskau behauptet zur Rechtfertigung seines Truppenaufzugs an der ukrainischen Grenze  unentwegt, die Nato habe zugesagt, sich nicht nach Osten auszuweiten. Moskau verbreitet diese Geschichte zwar über seine offiziellen Vertreter und Machtstrukturen, aber sie läßt sich nicht beweisen. Das liegt wohl mit größter Wahrscheinlichkeit daran, daß sie schlichtweg erlogen und reines Wunschdenken ist.

Es ist ein gefährlich dünnes Eis, auf dem derzeit der russische Bär tanzt.

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