StartFeuilletonDas Hirn als Muskel: Plädoyer für Lesen und Schreiben

Das Hirn als Muskel: Plädoyer für Lesen und Schreiben

Von Hermes

Bild: Pixabay

Anlaß dieser Überlegung war ein Artikel über das Bücherlesen:

Wie jeder weiß, der gerne liest und Liegestütze macht: Das Hirn wächst wie jeder Muskel bei Beanspruchung zu größerer Leistungsfähigkeit.

Was hat das Lesen von Büchern damit zu tun? Im Gespräch lernen wir nur von Menschen, die uns recht ähnlich sind. Spannend genug, aber ein gutes Buch zieht uns in völlig neue Gedankenwelten und Ideen, denen wir sonst nicht hätten begegnen können. Andere Zeiten, andere Kulturen, sehr verschiedene Menschen erweitern unseren Horizont und damit unser Verständnis der conditio humana.

Unser Vokabular wächst und damit die Tiefe, in der wir die Welt erleben können. Es macht auf unser Hirn bis in die sinnliche Wahrnehmung einen Unterschied, ob alles „schön“ oder „geil“ ist, oder manches hübsch, anderes wunderbar, sublim, erhebend oder bezaubernd.

Es gibt kein Problem in unserem Leben, das nicht andere schon gehabt und gelöst hätten. Es gibt kaum einen Gedanken in unserem Leben, der originell und originär wäre. Lesen versteilert die Lernkurve gewaltig.

Ganz trivial hilft aktive Hirntätigkeit genauso wie Sport oder Tanzen schlicht gegen Altersabbau aller Art.

Soweit zum Artikel, und ich möchte noch auf das eigene Schreiben eingehen. Denn dabei gehen wir vom eher passiven Lesen zu Aktivität über. Zu meiner Zeit zumindest mußten Schüler Gelesenes schriftlich zusammenfassen. Gar nicht so einfach … Man lernt sehr schnell den Unterschied zwischen dem, was man meint, und dem, was beim ersten Lesen hängengeblieben ist, und dem, was da tatsächlich steht. Meinung und Tatsachen haben meist wenig miteinander zu tun, selbst wenn wir die Tatsachen direkt vor der Nase haben.

Meine Nachhilfeschüler lasse ich Vokabeln mit dem klassischen Karteikartensystem pauken. Dies hat sensorische Gründe: Wenn ich das Wort aus dem Text aufschreibe und mir dabei vorlese, sehe ich es, höre es, sehe es, schreibe es mit der Hand und sehe es beim Schreiben noch einmal drüber. Die Synapsen bilden sich viel schneller. Die Karten zwei Tage später geübt: Transfer ins Langzeitgedächtnis.

Auch wenn bei der digitalen Textverarbeitung einiges gegenüber der Handschrift verloren geht, überwiegen doch die Vorteile gewaltig. Ich halte das eigene Schreiben – ganz ohne Übertreibung – für eine lebensverändernde Kulturtechnik, u.a. bei der Bewältigung sachlicher und auch persönlicher wichtiger Fragen. Wohl niemand demonstriert Gründe und das Handwerkszeug besser als Jordan Peterson auf

https://docs.google.com/viewer?url=http://jordanbpeterson.com/wp-content/uploads/2018/02/Essay_Writing_Guide.docx

Es geht dabei nicht um elitär erscheinende Fragen, sondern ganz praktisch darum, ob das, was ich denke und dann sage, wirklich in sich logisch und geschlossen ist und eine wichtige Frage beantwortet, also auch sinnvoll ist.

Ob man eine Anleitung zum Bau eines Gartenhäuschens, einen längeren Brief an Oma Else oder eine Betrachtung zu Nietzsches Aufschrei „Gott ist tot“ schreibt, ist dabei völlig wurscht. Es geht ja nur darum, daß es um etwas Wichtiges geht, die dafür wichtigen Aspekte in Betracht gezogen und in eine in sich stimmige Gedankenfolge gebracht werden. Einfacher gesagt: Das, was man zum Thema schreibt und später dann auch sagt, interessant und relevant für den Zuhörer ist.

Aus meiner persönlichen Sicht hat das Schreiben sinnliche Aspekte im Sinne von Lebensqualität. Ich möchte es einmal mit den Kulturtechniken des Essens vergleichen. Nehmen wir eine gute Saltimbocca mit Freunden, die kriegt man selber hin. Man gehe zum Lieblingsitaliener, und es wird ein schöner Abend. Man bereite sie daheim, nach dem Einkauf pflückt man den Salbei im Küchenbeet, hat das Timing im Griff. Zum Essen vielleicht Vivaldi, mittelgedimmtes Licht, Kerzen auf dem Tisch und ein fetter Primitivo dazu (ok, der paßt eigentlich nicht, aber ich liebe ihn).

Das Produkt, die Saltimbocca, ist das Gleiche, im Zweifelsfalle ist meine zäher als die bei Giovanni. Auch die bekochten Freunde sind die gleichen. Und trotzdem ist es für mich ein Riesenunterschied.

In diesem Sinne sind die simplen uralten Lesen und Schreiben, auf denen Kulturen wesentlich ruhen, für mich pure Lebensintensität. Dabei ist es gar nicht so wichtig, ob das Geschreibsel und die Saltimbocca von hoher Qualität sind, die Bereicherung liegt im eigenen Tun.

Muß das jedem so gehen? Natürlich nicht. Wie jeder verheiratete Mensch weiß, sind wir Individuen unendlich unterschiedlich und prägen diese Eigenarten im Laufe unseres Lebens noch immer weiter aus. Lebensintensität erreicht der eine beim Triathlon, der andere bei konzentrierter Arbeit und die nächste bei der größten aller Aufgaben, der Erziehung von Kindern. Wer aber seinen Weg gefunden hat, dem sieht man es in den Augen an.

Trotzdem möchte ich ein bißchen insistieren: Die Chose mit dem Schreiben hat wirklich ganz praktische Vorteile in Lebensbereichen, wo man es kaum glauben mag. Und wie immer scheitere ich bereits an meiner eigenen Frau, die wehrt sich standhaft …

Kommentarregeln: Bitte keine beleidigenden oder strafbaren Äußerungen. Seid nett zueinander. Das Leben ist hart genug.

6 Kommentare

  1. Ganz herzlichen Dank für diese wunderbaren und feinfühligen Kommentare, aus denen ich manches lerne. Dank nicht wegen impliziten Lobes, sondern weil es pure Freude ist, für eine Gemeinschaft solcher Leser zu schreiben (man sehe mir den Verzicht auf die /innen bitte nach).
    Beim Schluß des wunderbaren Sonetts von Barring-Browning muß ich allerdings an Dantes Wiedersehen mit Beatrice denken, wo er eine herbe Überraschung betreffend jenseitige Liebe erleben mußte …

  2. Ja, auch ich habe mich sehr über diesen Artikel gefreut. Er ist wunderbar !! Ich bin eine leidenschaftliche Gärtnerin und Rosenliebhaberin und mein Hobby ist das Schreiben und Illustrieren von Rosenbüchern. Bisher sind es drei und in jedem Buch habe ich auch einen Themenaufsatz verfasst mit den Titeln :
    “” Mit Tinte und Herzblut “” (Geschichten über das Briefeschreiben),
    “” Frauen und Bücher —— eine Liebe für die Ewigkeit “”, und schließlich
    “”Geliebte Schmöker —— von Lieblingsbüchern und Kuschelecken “”.

    “Worüber man schweigen muß, darüber kann man Briefe schreiben “, sagte einst sehr treffend Liselotte von der Pfalz, die in ihrem Leben ca. 50.000 Briefe schrieb. Und wie recht sie hatte, denn für die rechtlosen und unterdrückten Frauen vergangener Jahrhunderte war das Schreiben von Briefen und Tagebüchern eine Art seelischer Freiraum, in dem sie Stress abbauen und ihren Gefühlen, Hoffnungen und Ängsten Ausdruck verleihen konnten. Briefe und Tagebücher waren manchmal sogar eine heilende Therapie. Ein Paradebeispiel ist die englische Schriftstellerin Elizabeth Barrett,die an einem schweren psychosomatischen Trauma litt, in das ihr tyrannischer Vater sie getrieben hatte. Dennoch fand der Dichter Robert Browning den Weg an ihr Krankenbett und verliebte sich in sie. Fortan wechselten sie in 20 Monaten 537 Briefe, in denen Elizabeth zum ersten Mal über ihre Lebensgeschichte und all ihre Ängste sprechen konnte. Ihr Gesundheitszustand besserte sich von Brief zu Brief. Heimlich heirateten die beiden und flüchteten nach Italien, wo sie 15 glückliche Ehejahre verbrachten. Und dort, genauer gesagt in Pisa,überreichte Elizabeth ihrem Robert jene 44 Sonette, die ihren Namen in der Weltliteratur für immer unsterblich machen sollten.

    Napoleon schrieb sich an Josephine die Finger wund und sogar Winston Churchill (man fasst es kaum !) schrieb zärtliche Liebesbriefe an seine Ehefrau Clementine. Adalbert Stifter schrieb an seine geliebte Amalia :” Du weißt nicht, Du kannst es gar nicht wissen, wie meine Seele Dir zugetan ist. Möge Gott uns vergönnen, bis in unser hohes Alter beieinander zu sein.” In England wurde zu Jane Austen`s Zeiten das Briefeschreiben zu einer Kunst erhoben. Man achtete genau auf Stil und Worte und man schätzte eine häusliche Behaglichkeit, in der man sich mit einer Tasse Tee und einem guten Buch in die Gartenlaube oder einen gemütlichen Lehnstuhl zurückzog.

    Ob Briefe zwischen Clara Wieck und Robert Schumann, Theodor Storm und Dorothea Jensen, Theodor Fontane und seiner armgeplagten Ehefrau Emilie, bis hin zu den berühmtesten Liebesbriefen der französischen Literatur von Cyrano de Bergerac an seine Roxane ————-, sie alle erzählen vom Glück und Leid der Menschen vergangener Jahrhunderte. Ein handgeschriebener Brief drückt Wertschätzung aus und verleiht den Worten Dauer und Gewicht. Man kann ihn aufbewahren wie einen Schatz und immer wieder lesen. Und um wieviel wertvoller erst sind ein paar Zeilen von einem geliebten Menschen, der diese Welt bereits verlassen hat ??

    Sorry, hoffentlich bin ich jetzt nicht dem einen oder anderen Leser auf die Nerven gegangen. Wenn ich einmal das Schreiben anfange, kann ich einfach nicht aufhören. Allen hier noch einen schönen Rest-Sonntag.

    Und hier für diejenigen, die es mögen, einige Worte aus der berühmten Balkon-Szene. Nein, nicht von Romeo und Julia, sondern von Cyrano und Roxane :
    “” Ist`s nicht ein Traum ?
    Wir sind uns nah und sehen uns doch kaum.
    Sie sehen,daß ein Mantel schleift im Düstern,
    ich seh des weißen Sommerkleides Flimmer,
    ich bin ein Schatten nur, Sie nur ein Schimmer ……..
    Verstehst du nun, beginnst du zu begreifen,
    daß durch die Nacht Dir meine Seele naht ….. ??””
    Darauf Roxane :
    “”Sie sind vom Zauber dieser Nacht berauscht,
    drum klingt auch Ihre Stimme wie vertauscht …….””

    • Danke Doris, auch über deinen ,,Artikel” habe ich mich gefreut.
      Du hast ein großes Talent zum Schreiben und auch das Wissen, mach weiterso!

      • @ Liebe Ingrid, danke. Wenn Du auch gerne liest, sende ich Dir hier das berühmteste und auch schönste Sonett 43 von Elizabeth Barrett-Browning an ihren Mann Robert. Manche Zeilen beziehen sich auf die schlimme Leidenszeit im Hause ihres Vaters, die ihr mitunter ihren Glauben nahm. Vielleicht gefällt es Dir. Die Übersetzung ist unverkennbar von Rainer Maria Rilke.

        Wie ich Dich liebe ? Laß mich zählen wie.
        Ich liebe Dich so tief, so hoch, so weit
        als meine Seele blindlings reicht, wenn sie
        ihr Dasein abfühlt und die Ewigkeit.

        Ich liebe Dich bis zu dem stillsten Stand,
        den jeder Tag erreicht im Lampenschein
        oder in Sonne. Frei, im Recht und rein
        wie jene, die vom Ruhm sich abgewandt.

        Mit aller Leidenschaft der Leidenszeit
        und mit der Kindheit Kraft, die fort war,seit
        ich meine Heiligen nicht mehr geliebt.
        Mit allem Lächeln, aller Tränennot,
        mit allem Atem. Und wenn Gott es gibt,
        will ich Dich besser lieben nach dem Tod.

  3. wenn man die Kalbsschnitzel duenn genug rollt und dann mit Weizemmehl einstaubt, vor dem Braten, werden sie selten zaeh.

  4. Was für ein wunderbarer Artikel, der hat mir große Freude gemacht!
    Genauso ist es, man kann stoisch vor sich hinstarren oder sein Leben in die Hand nehmen.
    Ich lese, lese und lese, mein ganzes Leben lang.
    Meist Sachbücher und Literaten die mir gefallen.
    Ich mache selbst Saltimbocca und lade gern Leute ein.
    Das Leben könnte so schön sein.
    Danke für so gute Berichte, macht richtig Spass Bei Schneider. net.
    Danke.

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