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Das andere Narrativ – Teil 3. Selenskyjs Anfang

Von Generalmajor a. D. Gerd Schultze-Rhonhof

Alarm: Die Russen kommen!

Selenskyjs Anfang

Wolodymyr Selenskyj übernimmt am 20. Mai 2019 als Nachfolger des inzwischen erfolglosen und weitgehend unbeliebten Präsidenten Poroschenko das Amt des Staatspräsidenten der Ukraine. Selenskyj gewinnt den Wahlkampf gegen Poroschenko u. a. mit den zwei Versprechen, den Bürgerkrieg im Osten des Landes zu beenden und ein Referendum über den Beitritt der Ukraine zur NATO und zur EU herbeizuführen. Ansonsten übernimmt Selenskyj einen Staat mit gespaltener Bevölkerung, hohen Steuern, hohen Preisen, sinkender Lebensqualität und Beamtenkorruption. Und er erbt die von Poroschenko eingegangene Minsker Verpflichtung, ein Gesetz für den autonomen Sonderstatus von Lugansk und Donezk zu erlassen.

In seiner Amtseinführungsrede verspricht Selenskyj: „Ich bin bereit, … meine Stellung aufzugeben, wenn dadurch ein Friede in Aussicht steht. … Wir müssen den Krieg beenden. Ich bin bereit für Gespräche. … Wir wollen ein Friedensabkommen mit Russland mit einem Referendum beschließen.“ Doch Selenskyjs Wunsch geht nicht in Erfüllung und die Großwetterlage ändert sich. Eineinhalb Jahre später, am 20. Januar 2021, übernimmt Joe Biden das Amt des amerikanischen Präsidenten und zwei Monate später, am 23.März 2021, gibt Selenskyj mit seinem Dekret 117/2021 den Auftrag an die Regierung und an die Streitkräfte, einen Aktionsplan für die „Wiedereingliederung der Krim in die Ukraine“ zu erarbeiten. Daraufhin beginnt Putin, die russischen Truppen an der ukrainischen Grenze weiter zu verstärken.

Der Endspurt zum Krieg

Eine Ukraine als großes NATO-Mitglied und mit ihr die amerikanische Präsenz direkt an Russlands Grenze wäre und ist mit Russlands vitalem Sicherheitsinteresse nach russischer Auffassung nicht vereinbar. So ordnet Putin einen Drohaufmarsch an der Grenze zur Ukraine an und fordert US-Präsident Biden 2021 und 2022 in einer persönlichen Begegnung und fünfmal in Telefonkonferenzen auf, dauerhaft auf die Aufnahme der Ukraine in die NATO zu verzichten. Biden hat das stets abgelehnt.

Stattdessen unterschreiben der amerikanische Außenminister Blinken und sein ukrainischer Amtskollege Kuleba am 21.November 2021 eine schriftliche Vereinbarung über eine „Strategische amerikanisch-ukrainische Partnerschaft“. In selbiger steht u. a., „dass die USA die russische Annexion der Krim niemals anerkennen werden.“ US Präsident Biden setzt eine Versicherung oben drauf. Er erklärt am 6. Dezember in einer Rede, dass „das amerikanische Sicherheitsversprechen an die Ukraine in Eisen gegossen ist.“ Fast zeitgleich verkündet NATO-Generalsekretär Stoltenberg, dass auf dem nächsten NATO-Gipfel im Sommer 2022 in Madrid über den NATO-Beitritt der Ukraine verhandelt werden soll. Und am 25.Dezember lädt Stoltenberg die russische Regierung zu einem Treffen des NATO-Russland-Rats nach Brüssel ein. Er ergänzt die Einladung mit der Aufforderung, Putin möge zur Diplomatie zurückkehren. Die Bemerkung lässt Putin und Lawrow vermuten, dass es dort etwas zu verhandeln gilt.

Im neuen Jahr, 2022, dreht sich das Rad der Eskalation noch schneller.

Auf der Konferenz des NATO-Russland-Rats am 12. Januar, als die NATO-Aufnahme der Ukraine zum Thema wird, erklärt Stoltenberg der russischen Delegation, dass über eine Aufnahme der Ukraine in die NATO allein die NATO-Staaten und die Ukraine selbst zu entscheiden hätten. Er bekräftigt das mit dem Satz „Da hat uns niemand reinzureden!“ Das ist nach Stoltenbergs offensichtlicher Auffassung die „Diplomatie“, zu der Putin zurückkehren soll.

Hinzu kommt, dass der ukrainische Präsident Selenskyj leichtsinniger Weise am 19. Februar 2022 in seiner Rede auf der Münchener Sicherheitskonferenz ankündigt, dass er erwägt, die Ukraine wieder zum Atomwaffen-Staat zu machen. Das ist für Putin nicht nur „Öl ins Feuer“ der schon überhitzten Lage. Es ist „Dynamit mit Zündschnur“. Es erklärt auch Putins weiteres Vorgehen. Er zieht daraufhin zwei Tage später, am 21. Februar 2022, zum zweiten Mal die Notbremse. Putin erkennt die Eigenstaatlichkeit der abgespaltenen Oblaste acht Jahre nach deren eigener Unabhängigkeitserklärung an. Putin hatte mit dieser Anerkennung das getan, was sich 13 Jahre vorher im Kosovo ereignet hat. Dort hatten die westlichen Staaten auch nach jahrelangem Bürger- bzw. Sezessionskrieg und ohne die Zustimmung des UN-Sicherheitsrats die neuen Grenzen und die selbst erklärte Unabhängigkeit eines serbischen Teilstaats anerkannt und damit den territorialen Bestand Serbiens verändert. Und der Internationale UN-Gerichtshof hatte im Fall der Kosovo-Unabhängigkeit am 22. Juli 2010 ausgeführt: „Das allgemeine Völkerrecht enthält kein irgendwie festgelegtes Verbot einer Unabhängigkeitserklärung.“

Am 21. Januar 2022 lädt NATO-Generalsekretär Stoltenberg außerdem die ukrainische Regierung ein, am Grundsatzpapier für die zukünftige Strategie der NATO mitzuarbeiten, an der „NATO Agenda 2030“. Das ist ein weiteres Signal für Putin, dass er mit seinen jahrelangen Bitten, Forderungen und Drohungen, die NATO auf Abstand zu Russlands Westgrenze zu halten, gescheitert ist. Putin lässt am 24.Februar 2022 russische Truppen in die Ukraine einmarschieren. Er verstößt damit gegen allgemein anerkanntes Völkerrecht

Putins Krieg?

Man darf diese einprägsame Floskel nicht zu einer einseitigen Schuldzuweisung missbrauchen. Die Schuldfrage soll später erst mit den Aussichten auf einen Friedensschluss behandelt werden. Die inzwischen gängige Bezeichnung ist zwar griffig, aber dennoch töricht. Sie ist insofern falsch, als Putin hier keinen Krieg begonnen hat. Er hat mit Russland in einen seit acht Jahren laufenden Bürgerkrieg im Nachbarland eingegriffen, um sowohl die Sicherheitsinteressen des eigenen Staats zu wahren als auch, um den bekämpften russischen Landsleuten im Nachbarlande beizustehen.

Wie an den russisch-amerikanischen und an den russisch-NATO Auseinandersetzungen von 2021 und Januar 2022 sichtbar geworden ist, handelt es sich bei der Kriegsbeteiligung Russlands am innerukrainischen Sezessionskrieg in erster Linie um eine amerikanisch-russische Auseinandersetzung. Die USA finanzieren die ukrainische Kriegspartei seit Jahren. Sie liefern seit 2014 Waffen, Munition und stellen zunächst Söldnermilitär. Seit der Mission des US Generals Ben Hodges ( USAREUR ) in Kiew im Januar 2015 entsenden die US Streitkräfte auch offizielle Militärberater. Die Gefangennahme des US Generalleutnants Cloutier und des US Fleet Admirals ( 4 Sterne ) Olson in Mariupol im März und Mai 2022 und der amerikanische Flottengefechtsstand in Otschakiw zeigen, dass die USA versuchen, gewichtigen Einfluss auf die Kriegführung der Ukrainer zu nehmen. Der ehemalige SACEUR General Breedlove äußert im April 2022 offensichtlich nicht ohne Grund, dass er glaubt, dass die USA in der Ukraine einen Stellvertreterkrieg mit Russland führen.

Die USA und die NATO-Länder begreifen sich nicht als Bedrohung Russlands, aber sie sind objektiv betrachtet dennoch eine Bedrohung für jeden autoritär geführten Staat oder Staat mit inneren Problemen. So haben die Amerikaner und in ihrem Gefolge Briten, Franzosen, Italiener und andere in den vergangenen Jahrzehnten „Regime Change Wars“ mit und ohne UN-Mandat gegen Grenada, Serbien, Afghanistan, Irak, Libyen und Syrien geführt und sich in die Bürgerkriege und Unruhen fremder Staaten eingemischt, ohne selbst bedroht gewesen zu sein. Der amerikanische General und ehemalige Oberbefehlshaber der NATO-Streitkräfte in Europa ( SACEUR ) Wesley Clark hat am 9.3.2007 in einem Interview offenbart, dass er bereits im September 2001 im Pentagon erfahren hat, dass dort entschieden worden ist, dass in den nächsten 5 Jahren in 7 Staaten Systemwechselkriege geführt werden sollen. Das ist die Manifestierung der amerikanischen Absicht, den eigenen Herrschaftsanspruch durch Kriege zu erweitern. Alle diese Kriege wurden durch innere Unruhen vorbereitet, die sich über die dortigen ethnischen oder religiösen oder sozialen Differenzen und Oppositionsgruppen ohne weiteres schnell von außen her entfachen ließen. Putin hat diese Machtverschiebungen natürlich registriert. Er hat gesehen, dass die Ukraine nach dem Regierungswechsel von 2014 im Begriff war, ganz in die amerikanische wirtschaftliche Einflusszone zu geraten und dass Russland bei weiterer Entwicklung auch amerikanische Truppen, Mittelstreckenraketen und Flottenstützpunkte an seiner Haustürschwelle haben würde. So ist der jetzige Ukraine-Krieg eine russisch-amerikanische Auseinandersetzung, auch wenn die USA noch nicht am Waffen-Krieg beteiligt sind.

Teil 1, Teil 2, Teil 3, Teil 4.

Sämtliche Bilder wurden von Maria Schneider eingefügt.

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Gerd Schultze-Rhonhof
Gerd Schultze-Rhonhof
Generalmajor a. D. Gerd Schultze-Rhonhof wurde am 26. Mai 1939 in Weimar geboren. Nach dem Besuch des Gymnasiums und Abitur in Bonn trat er 1959 in die Streitkräfte ein und wurde zum Panzeroffizier ausgebildet. 1964 und 1965 unternahm er eine halbjährige Studienreise durch Namibia und Südafrika. Nach dreijähriger Verwendung als Chef einer Panzerkompanie absolvierte er die Generalstabsausbildung. Dem folgten Einsätze als Generalstabsoffizier im NATO-Hauptquartier der Armeegruppe NORTHAG, in der Truppe, im Verteidigungsministerium und eine Verwendung als Kommandeur eines Panzerbataillons. Danach bildete Schultze-Rhonhof selbst vier Jahre lang angehende Generalstabsoffiziere an der Führungsakademie der Bundeswehr aus, ehe er nacheinander Kommandeur einer Panzergrenadierbrigade, der Panzertruppenschule, der 3. und der 1. Panzerdivision und des Wehrbereichs Niedersachsen/Bremen wurde. Als letzte Dienstaufgaben leitete Generalmajor Schultze-Rhonhof die erste „Partnership for Peace“-Übung der NATO in Ungarn und nahm als Beobachter an einem ägyptisch-amerikanischen Manöver in der Libyschen Wüste teil. Schultze-Rhonhof schied 1996 auf eigenen Antrag aus der Bundeswehr aus, weil er die Mitverantwortung für die Folgen einer unangemessenen Verkürzung der Wehrdienstdauer auf 10 Monate nicht mittragen wollte. Seitdem hat er 1997 das Buch „Wozu noch tapfer sein?“ , 2003 das Buch „1939, Der Krieg, der viele Väter hatte“ und 2008 das Buch „Das tschechisch-deutsche Drama 1918-1939? und weitere Buch- und Zeitungsbeiträge geschrieben. Als letztes hat er 2013 das amerikanische Buch des Authors J.V. Denson “ A Centrury of War“ ins Deutsche übersetzt und unter dem Titel “ Sie sagten Freiden und meinten Krieg“ herausgegeben. Er hat außerdem zahlreiche Vortragsreisen in Deutschland, Österreich, der Schweiz, der Türkei, Italien und Peru unternommen. 1996 wurde Schultze Rhonhof mit dem Freiheitspreis der Stiftung „Demokratie und Marktwirtschaft“-München und dem Couragepreis des „Verbandes der privaten Wohnungswirtschaft“-Hannover, 2012 mit dem Kulturpreis der Landsmannschaft für freie Publizistik ausgezeichnet. Gerd Schultze-Rhonhof ist verheiratet, hat drei verheiratete Töchter und neun Enkelinnen und Enkel, und er lebt in Haldensleben bei Magdeburg.