StartRassismus gegen Weiße und DeutscheSchauprozess gegen 101-Jährigen: Unerbittlich unverhältnismäßig

Schauprozess gegen 101-Jährigen: Unerbittlich unverhältnismäßig

Bild: Pixbay von DzidekLasek

Ist so etwas wirklich adäquat, moralisch angemessen und dient in irgendeiner Weise dem Rechtsfrieden? Die gestrige Verurteilung des 101-Jährigen (!) ehemaligen SS-Angehörigen und Wachmannes im Konzentrationslager Sachsenhausen, Joseph S., durch das Landgericht Neuruppin (Brandenburg) nach einem neunmonatigen Prozess wegen Beihilfe zum Mord an mehreren tausend Menschen zu fünf Jahren Haft mag rechtsstaatlich und juristisch legitim gewesen sein. Es geht nicht darum, die Greueltaten eines Systems zu verharmlosen oder gar straffrei zu halten, dem S. damals wie zahllose andere diente, und dessen subjektive Schuld zu leugnen. Doch nach allen Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit ist es ein Unding, dass nun nach acht Jahrzehnten einem hilflosen Greis, der damals eines der geringsten und niedrigsten Rädchen des Systems war – bloß, weil er eben irgendwie noch greifbar ist – ein Schauprozess gemacht wird, der bei Millionen anderen vor ihm viel angebrachter gewesen wäre – darunter selbst Massenmörder und Kriegsverbrecher, die ihren Lebensabend unbehelligt verbringen durften.

Denn außer Frage steht: Hätte man die Maßstäbe, die heute an S. angelegt wurden, vor 30 oder auch noch 20 Jahren an alle damals noch lebenden Täter dieser unteren funktionalen Ebene angelegt, dann hätten sich deutsche Gerichte mit praktisch nichts anderem mehr befassen dürfen als mit solchen Verfahren, weil deren Zahl riesig gewesen ist. Jetzt, da überlebende Täter genauso selten wie die überlebenden Opfer geworden sind, wird beiden Seiten eine übersteigerte, fast sakrale Aufmerksamkeit zuteil – im Positiven oder Negativen. Da gibt es nur noch „Holocaust-Überlebende“ und „KZ-Mörder“.

Hysterisch nachgeholte Vergangenheitsbewältigung

Das Ergebnis dieser unseriösen Art hysterisch nachgeholter Vergangenheitsbewältigung mit der Brechstange ist eine Farce, die ihrerseits Fragen der Menschlichkeit berührt: S. konnte der Verhandlung gegen ihn kaum folgen. Wegen der Gebrechlichkeit des Angeklagten musste der Prozess in einer umfunktionierten Sporthalle stattfinden und mehrmals unterbrochen werden. Seine Haftstrafe, auch wenn er sie aus Gesundheitsgründen im Heim oder Hausarrest verbüßen sollte, dürfte er kaum überleben. Umso scharfrichterlicher und unerbittlicher fiel der Urteiltext über ihn aus: Das Gericht sah es als erwiesen an, dass S. von Oktober 1941 bis Februar 1945 Dienst als Wächter in Sachsenhausen tat. Laut den Ermittlern habe er sich mit 20 freiwillig zur Waffen-SS gemeldet, vermutlich weil ihm als in Litauen geborenem „Volksdeutschen“ dafür eine schnellere Einbürgerung versprochen worden war. Das Urteil folgte dem Antrag der Staatsanwaltschaft. Richter Udo Lechtermann
sagte – ganz im selbstgerechten Tenor der Nachgeborenen – wörtlich: „Sie, Herr S., haben Terror und Massenmord gefördert. Ihnen war bewusst, dass in Sachsenhausen Menschen gequält und getötet wurden, und Sie haben diese Vernichtung mit Ihrem Wachdienst bereitwillig unterstützt. Wer das macht, nimmt das Morden billigend in Kauf oder will das Morden unterstützen.

Bei der Verurteilung wegen Beihilfe zum Mord sei es um die „Nähe zum Tatgeschehen“ gegangen, so die Kammer; S. habe Häftlinge gesehen, die zur Exekution oder zur Gaskammer geführt worden seien. „Sie haben auch die Schüsse gesehen, den Geruch vom Krematorium in der Nase, die verhungernden Menschen beobachtet. Es gibt keinen Zweifel, dass Sie wussten, was Sie taten und damit bewirkten“, führte Lechtermann weiter aus. Dennoch habe er seinen Dienst im Lager fortgesetzt, obwohl er, wie der Richter meinte, sich auch an die Front versetzen lassen oder sogar den Dienst quittieren hätte können. Eine steile These; wie frei gerade ein gebürtiger Litauer im damaligen SS-System wirklich entscheiden konnte, ohne sich verdächtig zu machen, lässt sich aus heutiger Sicht gar nicht mehr beurteilen. Jedenfalls habe S., so das Gericht, mit seiner Tätigkeit „die Mordmaschine erst möglich gemacht” und sei so zu einem „willfährigen Helfer der Täter“ geworden. Ob er auch die Grenze zur Täterschaft überschritten habe, habe das Gericht nicht festgestellt. „Möglich wäre es“, so Lechtermann. „Die Wahrheit kennen nur Sie, Herr S.“.

Moralische Scharfrichter

So saß in Neuruppin einmal wieder die Nachwelt über die Vergangenheit zu Gericht, durchtränkt von den selbstgerechten Wertvorstellungen eines Gegenwart, die so grundlegend von denen des Deutschlands der 1930er und 1940er Jahre entfernt ist, dass sich auch keiner der moralischen Scharfrichter des Jahres 2022 mehr die Frage stellt, wie er wohl selbst in jener Zeit gehandelt hätte und ob er sich dem Sog des damaligen Zeitgeistes hätte widersetzen können, der – und darauf muss man immer wieder hinweisen – zumindest viele Jahre, bis sich dann die Katastrophe abzeichnete, für genauso „richtig“, „wahr“, konsensual und gemeinschaftsfördernd gehalten und empfunden wurde wie heutige ideologische Verirrungen auch wieder. In der Rückblende ist es wohlfeil, gratismutig und leicht, Rückgrat und Haltung (die damals oft den sicheren Tod bedeutet hätte) einzufordern.

Es gab durchaus Fälle auch noch viel späterer Verurteilungen erwiesener Täter – lange nach den Verfahren gegen Adolf Eichmann in Israel oder Klaus Barbie in Frankreich -, an deren besonderer Schuld kein Zweifel bestand und die daher auch aktiv von den Ländern, in denen sie unermessliches Leid angerichtet hatten, gesucht wurden; ein bekanntes Beispiel war der Prozess gegen Erich Priebke wegen des Massakers und den Adreatinischen Höhlen. Hier erwies es sich als richtig und wichtig, dass es keine Verjährung für Mord gab, zumal die Mittäterschaft an Verbrechen außer Zweifel stand. Das ist jedoch etwas völlig anderes als im Fall von Joseph S., der bis zum Schluss des Prozesses bestritten hatte, das Lager Sachsenhausen überhaupt je betreten zu haben und angab, nur als Landarbeiter tätig gewesen zu sein.

Lechtermanns Schlusswort, es bleibe die „Erkenntnis, dass solche in ihrem Ausmaß beispiellose Verbrechen nie mehr wieder geschehen dürfen. Nicht hier, und auch nicht anderswo auf dieser Welt“, ist prinzipiell beizupflichten; ob jedoch diese Art von rigoroser irdische Gerechtigkeit mit 80 Jahren Verzögerung dazu beitragen kann, ist mehr als fraglich. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, die Verteidigung kündigte Berufung an. Sollte der Angeklagte dann noch am Leben sein, dürfte es nahezu ausgeschlossen sein, dass er die Haftstrafe bei seinem Alter und Gesundheitszustand antreten muss. Das macht den Prozess gegen ihn allerdings nicht weniger fragwürdig.

Die Devise: Wo immer greifbare „Nazis” müssen abgeurteilt werden

Dass überhaupt nach irgendwelchen verbliebenen „Methusalems” gefahndet wird, liegt auch an einer Art Wiedergutmachungskomplex der deutschen Justiz, die noch verstärkt wird durch eine zunehmende Verklärung des Dritten Reichs, das – oft verharmlosend – als dämonisierende Chiffre für alles Finstere der Gegenwart herhalten muss: „Echte Nazis“, wo immer sie noch greifbar sind, müssen rituell abgeurteilt werden. Für Jahrzehnte hatte die deutsche Justiz nicht nach SS-Wachpersonal in den Konzentrations- und Vernichtungslagern, sondern nur nach Haupttätern gesucht; jenen also, den wenigstens ein konkreter Mord nachgewiesen werden konnte. Diese änderte sich erst mit dem Urteil gegen Wachmann John Demjanjuk aus dem Vernichtungslager Sobibor im Jahr 2011. Auch dessen Prozess und Verurteilung hinterließen einen gewissen Beigeschmack. Vergegenwärtigt man sich die Abscheulichkeiten des Regimes, dem die Angeklagten – und sei es noch so subaltern – dienten, dann verdienen sie gewiss kein Mitleid. Andererseits stellt sich die Frage nach der Sinnhaftigkeit von Prozessen gegen heute hochbetagte Menschen, die, wenn überhaupt, als niedere Chargen auf unterster Ebene Dienst im NS-Regime taten. Nach dieser Logik müsste man auch jeden kleinen Büroangestellten zur Rechenschaft ziehen, der mit seiner Verwaltungstätigkeit ebenfalls zum Funktionieren des NS-Staates und zur Organisation des Holocaust beitrug – und damit quasi jeden vor 1927 geborenen Deutschen unter Verdacht stellen, sofern er nicht seine Zugehörigkeit zum Widerstand dokumentieren kann.

Dazu kommt noch erschwerend, dass die Verurteilungen gar nicht wegen Mord erfolgen, weil keine entsprechenden Beweise oder konkrete Indizien vorliegen, sondern letztlich aufgrund des Vorwurfs, nicht den Dienst quittiert zu haben. Moralische Feigheit, über die sich Jahrzehnte später wohlfeil urteilen lässt, ist aber kein strafrechtliches Kriterium. Jahrzehntelang hat die Bundesrepublik hochrangige und aktiv verantwortliche Täter in allen Bereichen nicht nur völlig unbehelligt gelassen, sondern sie in hohen und höchsten Positionen im Staatsdienst beschäftigt und ihnen Renten gezahlt, in die auch die Tätigkeit im NS-Staat einfloss. Es drängt sich also der Verdacht auf, dass man dieses Versagen kompensieren will, indem man Greise vor Gericht zerrt, an denen man nun ein Exempel statuiert, das jedoch eher dem eigenen moralischen Wohlbefinden und dem Bestreben geschuldet ist, fast achtzig Jahre nach Ende des Dritten Reiches den damals ausgebliebenen Widerstand dagegen nachzuholen. Mehr denn je gilt das Diktum des 1999 verstorbenen Journalisten Johannes Gross: „Je länger das Dritte Reich tot ist, umso stärker wird der Widerstand gegen Hitler und die Seinen.

Kommentarregeln: Bitte keine beleidigenden oder strafbaren Äußerungen. Seid nett zueinander. Das Leben ist hart genug.

8 Kommentare

  1. Ein spannender Fall. An den letzten Überlebenden wird augenscheinlich umso härter die Schuldaufarbeitung der Deutschen durchgesetzt, zumal so einfach bei Leuten, die mit einem Fuss im Grab stehen. Leider ist es mittlerweile auch kein Geheimnis mehr, das Anwälte und alle Prozessbeteiligten diese Verfahren bis zum Letzten für Aufmerksamkeit und Finanzen in die Länge ziehen und ausschlachten.
    Was dem ausländischen Beobachter bei solchen Schauprozessen hängen bleibt, ist die Feststellung, dass die Deutschen die persönliche Kriegsschuld eines jedes einzelnen nie wirklich aufgearbeitet haben, siehe MItschurins “Die Unfähigkeit zu trauern”. Die Kinder glauben um das eigenen positive Selbstbild nicht zu gefährden Oma und Opa “mussten” mitmachen, waren aber eigentlich im Wiederstand. Die wenigsten stellen sich dem Fakt, das die meisten Omas und Opas zu faul waren sich alternativ zu informieren und deswegen Mitläufer waren und genau gewusst haben, was da im Lager passiert.
    Ohne Analyse der damailigen Methodiken und der Unterichtung der Kinder in Methodiken der Propaganda wird die nachfolgende Generation, dieselben Fehler wiederholen müssen, weil sie noch nicht mal in der Lage ist die Fehler zu erkennen.
    Und daher sollte sich jeder intellektuelle deutsche mit dem Gedanken abfinden, dass das Land früher oder später wieder zu verlassen ist, bevor die Deutschen wieder die “andersartigen” verfolgen.

  2. Dazu kommt noch erschwerend, dass die Verurteilungen gar nicht wegen Mord erfolgen, weil keine entsprechenden Beweise oder konkrete Indizien vorliegen, sondern letztlich aufgrund des Vorwurfs, nicht den Dienst quittiert zu haben.

    Hätte er das versucht oder getan, wäre er mit hoher Wahrscheinlichkeit ,sagen wir mal, “gemaßregelt” wurden!

    Es ist eine Schande für dieses Land, diesen Mann, der ganz unten in der Befehlskette war, überhaupt anzuklagen!

    Mehr will ich dazu nicht schreiben!

    3
    1

Kommentarfunktion ist geschlossen.