Den ersten Teil des Märchens finden Sie hier.
Viertes Kapitel – Die verschwundenen Kinder
Vier fruchtbare Jahre waren vergangen, seit Anina mit ihrem Gemahl und ihren drei Kindern in das Königreich ihres Vaters zurückgekehrt war. Es gab viel zu tun, denn König Anton hatte ein ausgeplündertes, verwüstetes Land hinterlassen. Doch das fleißige Volk im Königreich der Eichen hatte alles wieder zum Blühen gebracht. Auch die von Anina eingeführten Neuerungen wurden von den Bürgern begrüßt. So ließ Anina mehr Lehrer ausbilden und wies die Bürgermeister und Stadträte im ganzen Land an, Räume zur Verfügung zu stellen, damit auch die Söhne und Töchter der Bauern, Handwerker und ärmeren Familien Rechnen, Lesen und Schreiben lernen konnten. Ärzte und heilkundige Frauen sollten die jungen Mädchen in der Krankenpflege unterweisen. Außerdem gründete Anina eine sog. Volkskasse, eine Idee, von der die Menschen im ganzen Land begeistert waren. Damit gehörte der Sparstrumpf unter der Matratze der Vergangenheit an und die Bürger liefen nicht mehr Gefahr, von Dieben und Einbrechern ausgeraubt zu werden.
Es ließ sich gut leben im Land der Eichen und alle waren glücklich und zufrieden. Bis eines Morgens im Schloßhof ein fürchterliches Geschrei ertönte. Der Schäfer schrie entsetzt, daß die Hälfte seiner Schafe mit durchgeschnittenen Kehlen auf der Wiese lägen. Einige Tage später brannte ein Heuschober nieder. Ein Bauer sagte aus, er hätte einen schwarz vermummten Reiter auf einem schnellen Pferd in den Wald reiten sehen. Weitere 2 Wochen waren vergangen, als ein Junge auf seinem Heimweg von der Schule plötzlich vor einen Pferdekarren gestoßen wurde und zwischen die Hufe der Pferde geriet. Und wieder sah man einen schwarz gekleideten Reiter schnell davon eilen. Der Junge starb wenig später.
Etwas Schreckliches ging vor sich in Aninas Königreich und sie machte sich große Sorgen. Alle möglichen Vorkehrungen wurden getroffen, um die Sicherheit des Volkes zu gewährleisten. So hatte sie die vielen Waffen, die König Anton noch hatte schmieden lassen, im Volk verteilt und die Söldner angewiesen, die Bürger und Bauern im Gebrauch der Waffen zu unterweisen. Auch sollten die Menschen, allen voran die Kinder, nur noch in Gruppen unterwegs sein. Bürgerwehren wurden gebildet und auch nachts mußten die Wege mit Laternen beleuchtet werden. Mehr Büttel und Nachtwächter sollten die Gemeinden bewachen. Aber die Verbrechen hörten nicht auf. Mariana, die junge Tochter des Haushofmeisters, verschwand und wurde am nächsten Tag tot aufgefunden. Ihr Gesicht war zerschnitten, ihr Herz von Messerstichen durchbohrt. Auch ein junger Bauernsohn lag tot auf einem Kartoffelacker. Eine alte Schneidermeisterin fand man erschlagen in ihrem Haus. Ein Rathaus brannte nieder in der Nacht und immer mehr Mädchen wurden Opfer der schändlichsten Verbrechen.
Fünftes Kapitel – Der Wanderer Eines
Tages kam ein Wanderer den Weg zum Schloß hinauf gegangen. Er klopfte an und verlangte die Königin zu sprechen. „Ich habe eine wichtige Botschaft für eure Herrin“, sage er zum Pförtner. Sofort wurde er zu Anina gebracht, die ihn freundlich begrüßte und ihm eine Schale Wein reichen ließ. „Nun sprecht ganz offen, lieber Wandersmann. Welche Botschaft habt Ihr für mich?“ Und der Fremde begann zu sprechen. „Ich komme viel herum, verehrte Königin, und überall reden die Menschen vom prächtigen Königreich der Eichen und seiner klugen Herrscherin. Aber Ihr solltet wisen, daß Ihr auch mächtige Feinde habt.“ Anina sah den Mann verwundert an. „Ich pflege mit allen meinen Nachbarn gute Beziehungen. Wer sollte wohl mein Feind sein?“ „Hört mir zu“, fuhr der Fremde fort, „Eure Feinde stehen nicht mit einem Heer an den Grenzen Eures Reiches. Eure Feinde sind die Verräter im Innern. Man sagt, es wären die sechs mächtigsten Ritter in Euren Land und sie hätten eine treue Gefolgschaft. Zu allen Ritterspielen tragen sie grüne Bänder an ihren Rüstungen, um den prächtigen Eichenwäldern ihrer Heimat Ehre zu erweisen, aber ihre Worte sind giftig, falsch und verlogen. Sie hassen und verachten das Königreich der Eichen und sie hassen jeden, der dieses Land liebt.“
„Aber wie kann das sein?“, fragte Anina, „ist es denn nicht ein großes Glück für jeden Menschen, eine Heimat zu haben, in der man gut und beschützt leben kann?“
„Nicht für die grünen Ritter, verehrte Herrin, sie wollen das Land der Eichen zerstören und an andere Herrscher verschleudern. In den Schenken und Wirtshäusern erzählt man sich hinter vorgehaltener Hand, daß einer der grünen Ritter auf seiner Burg Unzucht mit Kindern treiben soll. Wieder andere sollen der Opiumsucht verfallen sein. Da sie kein eigenes Heer besitzen, bedienen sie sich einer Mörder- und Diebesbande, die noch zu Lebzeiten Eures Vaters widerrechtlich in Euer Reich gekommen ist. Seid auf der Hut, liebe Königin, denn diese Verräter werden nicht eher ruhen, bis sie Euch und Eure Familie entmachtet und aus dem Schloß vertrieben haben und ich muß Euch nicht darüber belehren, daß jedes Land dem Untergang geweiht ist, das nicht von starker Hand zum Wohle des Volkes klug und weise regiert wird.“
„Ich danke Euch für Eure wohlgemeinte Botschaft, verehrter Herr“, sagte Anina. Sie gab Anweisung, den Mann gut zu versorgen und ihm ein Lager für die Nacht zu bereiten. Dann machte sie sich auf die Suche nach ihrem Gemahl.
Sechstes Kapitel – Die Rückkehr des Engels
Sie mußte unbedingt mit ihm reden, konnte ihn aber nirgendwo finden. In ihrem Kopf schwirrten die Gedanken hin und her wie ein Bienenschwarm. Verräter! Kinderschänder! Mädchenmörder! Anina konnte es nicht fassen! Sie lief in den Schloßgarten und setzte sich auf ihren Lieblingsplatz, um sich zu beruhigen und ihre Gedanken zu ordnen. Sie schloß die Augen und dachte daran, daß ihr an eben dieser Stelle vor vielen Jahren der Rosenengel erschienen war, um ihr den richtigen Weg zu weisen. Sie öffnete die Augen und da stand er vor ihr, eine strahlend schöne Lichtgestalt. Aber in seinen Händen hielt er keine Rose, sondern ein flammendes Schwert, wie Anina es noch nie gesehen hatte.
„Fürchte dich nicht, mein liebes Kind, fürchte dich nicht!“, sagte der Engel, „die Zeit der Rosen wird wiederkehren, aber nun mußt du kämpfen, denn wenn du es nicht tust, wirst du dein Reich und dein Volk unwiederbringlich verlieren. Nun höre meine Worte und befolge sie: Östlich von hier liegt ein riesiges Reich. Dort herrscht der mächtige König Wassili. Sende deine schnellsten Boten zu ihm und bitte ihn um Hilfe, denn allein kannst du die Verräter nicht besiegen. Er wird sie dir gewähren, denn er ist ein Freund deines Landes. In der Zwischenzeit sende Herolde zu allen Burgen und lade die Ritter ein, zu fröhlichen Ritterkämpfen ins Schloß zu kommen. Dann wirst du sehen, wer die Ritter der grünen Bänder sind. Wiege sie solange in Sicherheit, bis die Söldner König Wassilis eintreffen.
Außerdem ist es von größter Wichtigkeit, daß du endlich der Mörder, Diebe und Brandstifter habhaft wirst, die sich tief in den Eichenwäldern verbergen und sehr schwer zu finden sind. Vertraue den Kommandanten des Heeres, denn sie wissen, was zu tun ist. Wenn all das geschehen ist, sorge für Gerechtigkeit. Sieh dieses flammende Schwert, das die Tränen der Trauernden trocknen wird, denn nur die Gerechtigkeit wird wieder Frieden zu den Menschen bringen. Sorge dich nicht, ich werde immer an deiner Seite sein.“ Dann verschwand der Engel.
Siebtes Kapitel – Das Gericht
Und alles geschah, wie der Engel es befohlen hatte. Anina lud die grünen Ritter zu einer königlichen Jagd in den Wäldern ein. Dort warteten König Wassilis stärkste Söldner und griffen blitzschnell zu. Die mächtigen grünen Ritter wurden festgenommen und in das tiefste, dunkelste Verließ des Kerkers geworfen. Dann brach ein großes Söldnerheer auf, um die Räuberbande aufzuspüren. Viele Tage lang durchstreiften sie die Wälder, bis sie eines Tages von fern lautes Gelächter und Geschrei hörten. Leise kreisten sie die Bande ein und schlugen zu. Alle wurden überwältigt, in Fesseln gelegt und auf Pferdekarren zum Schloß gebracht.
Dort war schon eine Tribüne aufgebaut und Stühle für die trauernden Angehörigen hingestellt worden. Einige Bürgermeister und Stadträte trafen ein, um ebenfalls über die Mörder und Verräter zu richten. Nun erschienen auch die Königin und ihr Gemahl. Das Gericht begann. Die erste Gruppe der Angeklagten wurde vor die Königin geführt. In Anina regte sich fast schon Mitleid, als sie auf diese Ansammlung zerlumpter Diebe, Plünderer und Einbrecher sah. Es waren alles junge Burschen, manche von ihnen fast noch Kinder. Haben diese jungen Leute keine Eltern, kein Zuhause, niemanden der sich um sie kümmert, fragte sie sich. Dann sagte Anina: „Hört zu! Ich schenke euch euer Leben, wenn ihr mir genau sagt, wer von eurer Bande die Mörder und Brandstifter sind. Ich will alles genau wissen! Sprecht und ihr dürft dieses Land lebend verlassen. Sprecht ihr nicht, werdet ihr alle hängen. Das ist mein letztes Wort!“ Die Burschen sagten alles, was Anina wissen wollte und wurden in die Freiheit entlassen.
Nun wurde die zweite Gruppe vor Gericht gestellt und das waren keine halben Kinder mehr. Es waren Mädchenschänder, Mörder und Brandstifter. Es waren genau die Männer, die so unsägliches Leid über so viele Familien gebracht hatten. In ihren Gesichtern war nicht die geringste Reue, nicht das geringste Bedauern und nicht ein Funken Mitleid mit den weinenden Müttern zu erkennen. Die Königin erhob sich und ihre Worte waren wie das Flammenschwert des Engels: „Ihr seid der Bodensatz des Abschaums der Menschheit. Ihr seid wie ein stinkender Haufen Abfall, der nur das übelste Ungeziefer anzieht. Selbst das Beil des Henkers ist noch zu gnädig für euch. Hiermit verurteile ich euch zum Tode durch Erhängen, denn eure Verbrechen verdienen keine Gnade. Henker! Walte deines Amtes!“
Noch zur selben Stunde wurden sie hingerichtet. Dann traten die grünen Ritter vor die Königin. Sie knieten nieder und baten um Gnade. „Verschont uns, edle Herrin, und wir werden Eure treuen Diener sein!“
Anina sagte: „Nein! Ihr seid Verräter und Verräter werdet Ihr immer bleiben. Ihr sprecht mit falscher, verlogener Zunge und Eure Worte sind wie Gift! Ihr tragt keinen Funken Liebe für euer Land oder eure Landsleute in Euch. Meine Verachtung für Euch und Euresgleichen kennt keine Grenzen!“ Die grünen Ritter wurden wieder in den tiefsten, dunklen Kerker gebracht, wo sie bis an ihr Lebensende bei Wasser und Brot darben mußten. Das Licht der Sonne haben sie nie wieder gesehen.
Siebtes Kapitel – Ein Meer von Rosen
Monate waren vergangen. Die Zeit heilte viele Wunden, aber nicht alle. Es war Frühling und langsam kam das Land wieder zur Ruhe. Das Osterfest stand vor der Tür und überall wurden die Häuser gelüftet und geschrubbt was das Zeug hielt. Es wurde gekocht und gebacken, Wäsche gewaschen und geplättet, die Bauern bestellten ihre Felder, die Winzer begannen ihre Arbeit in den Weinbergen, aus der Schmiede hörte man fröhliches Hämmern und die Fischer im Norden freuten sich über einen guten Fang. Anina war in den Schloßgarten gegangen, um eine Weile allein zu sein. Überall tanzten die goldenen Sterne der Osterglocken im Wind. Hier und da wagte sich schon ein Veilchen ans Sonnenlicht. Tief in Gedanken versunken fragte sie sich, ob sie für ihr geliebtes Volk wirklich das Beste getan hatte.
Plötzlich bemerkte sie das warme, goldene Licht und sah, daß der Rosenengel neben ihr ging. Auch jetzt trug er keine Rose in seinen Händen. Anina kniete vor ihm nieder und dankte ihm für alles. Der Engel lächelte. „Mein liebes Kind, zweifle nicht an dir selbst. Du hast recht getan. In den Augen Gottes gibt es kein größeres Verbrechen, als Kinder zu schänden und zu töten. Mein Kind, nun lebe wohl. Wenn die Zeit gekommen ist, übergib die Krone und das Reich deinem ältesten Sohn. Er wird es in deinem Sinne weiterführen, denn er ist dir sehr ähnlich. Du wirst mich wiedersehen, wenn deine Zeit abgelaufen ist. Dann werde ich kommen und dich in das Reich Gottes heimführen. Aber ich bleibe immer an deiner Seite.“
Und der Engel breitete seine Flügel aus. Er flog auf und aus seinen Händen strömte ein Meer von Rosen auf das Königreich der Eichen hinab.
manchmal werden märchen wahr:
den größten teil der erzählung durften und dürfen wir ja schon erleben. das lässt hoffen, dass uns auch der showdown noch serviert wird. es war einmal – in einer zeit als das wünschen noch geholfen hat ….
liebe Frau Mahlberg, ihre geschichten sind eine wohltuende abwechslung. möge bald die zeit kommen, in der Sie uns vorwiegend heitere themen offerieren können.
auch von mir an Frau Schneider ein dankeschön für das nostalgische oblaten-bild. man sieht sie ja heutzutage nicht mehr oft. als kinder hatten wir ganze alben davon.
lieben gruß!
Liebe Elisa, liebe Ingrid,
“es war einmal – in einer Zeit als das Wünschen noch geholfen hat”
Das waren auch meine Gedanken. Man kann nur hoffen, dass das Märchen heute noch wahr werden kann. Gut aussehen tut es dafür allerdings nicht.
lieber Patriot,
es war einmal – in einer zeit als das wünschen noch geholfen hat … dieser satz hat mich schon als kind fasziniert. leider, leider habe ich es nie geschafft, in der dafür notwendigen intensität zu wünschen. aber man soll nie “nie” sagen!
ihr letzter satz drückt auch meine befürchtung aus. deswegen schwenken wir jetzt vom märchenbuch zur bibel und denken an den mickrigen david.
lieben gruß!
ps – aber wer weiß?
the future is not ours to see …
Danke, danke, liebe Maria für das wunderschöne Bild.