Von Peter Helmes
Für viele Franzosen ist es eine Wahl zwischen Pest und Cholera
Frankreich hält den Atem an. Am Sonntag wird sich ein ganzes Land in einem Ritual, das so alt ist wie Griechenland, zusammenfinden, um über seine Zukunft zu entscheiden. Die Wissenden, die Mächtigen werden nicht mehr wert sein als die Kleinen und die Ungebildeten:
Es ist die Stunde des Volkes. Die Demokratie ist ein unvollkommenes System, ein System mit Mängeln, und das ist es, woran man sie erkennt. Sie läßt mehr Kritik, Enttäuschungen und Vorwürfe zu als jedes andere System. Trotzdem ist der Stimmzettel, vor allem bei Präsidentschaftswahlen, ein entscheidender Ausdruck der individuellen Freiheit und der kollektiven Souveränität. Es ist eine staatliche Pflicht, alle Franzosen daran zu erinnern: Die Zukunft ihres Landes liegt in ihren Händen.
Bislang sah es so aus, daß Frankreich am kommenden Sonntag (24.4.) eine Wiederholung des Szenarios der Wahlen vor fünf Jahren mit denselben Protagonisten erleben würde. Entscheidend wird am Ende die Wahlbeteiligung sein. Ihr Rückgang ist ein Warnsignal und eine Bedrohung für die Demokratie.
Die Überraschung liegt darin, daß es keine Überraschung gibt. Das Duell Macron gegen Le Pen, dieses Wiederholungsspiel, das die Franzosen eigentlich gar nicht wollten, wird stattfinden. Macron kann ihm nur teilentspannt entgegensehen. Natürlich kann die Kandidatin des Rassemblement National dieses Mal neue Wählerreserven mobilisieren. Aber angesichts des sehr deutlichen Vorsprungs Emmanuel Macrons gegenüber seiner Rivalin deutet alles darauf hin, daß der amtierende Präsident die Nase vorne hat.
Doch man sollte den Tag nicht vor dem Abend loben. Das Rennen könnte dieses Mal enger werden. Marine Le Pen liegt im Aufwind. Und die Wahlbeteiligung des 1. Wahlganges war niedrig. Die gefährliche Spaltung, die mit der vergangenen Wahl im Land Einzug gehalten hat, bestätigt sich. Der Rest der politischen Landschaft liegt in Trümmern da. Für die traditionellen Parteien war 2017 das Jahr ihres Entgleisens, 2022 ist das Jahr ihres Scheiterns.
Amtsinhaber Emmanuel Macron war 2017 als Verfechter eines starken Frankreich in einem starken Europa angetreten. Er versprach viele Reformen, auch solche, an denen seine Vorgänger gescheitert waren. Corona und der Krieg in Europas Osten änderten vieles, aber nicht alles.
Auf nationaler Ebene sind die Mitte-Links-Sozialisten und die Mitte-Rechts-Republikaner so gut wie tot. Aber die Herausforderung für Macron bleibt groß. Er muß sich einer starken Rechten erwehren. Dies gilt nicht nur für sein eigenes Land, sondern möglicherweise auch für die Menschen in der Ukraine.
Im Sender „France Inter“ räumt Emmanuel Macron ein, daß er eines seiner Versprechen vom Wahlabend 2017 nicht habe einlösen können, nämlich die Eindämmung der extremen Kräfte in Frankreich: „Die, die mit den Ängsten spielen, legen zu. Ich habe es nicht geschafft, sie einzudämmen. Aber ich bin auch keinem Thema aus dem Weg gegangen… Ich möchte überzeugen, daß Ängste teils berechtigt sind, daß aber die richtige Antwort eine andere ist und sie manchmal Zeit braucht.“
Marine Le Pen verkörpert nicht mehr dieselbe Politik wie einst ihr Vater, und Macron brachte bei seiner ersten Wahl noch frischen Wind in die französische Politik. Jetzt ist er ein erfahrener Politiker, ein Nachfolger Merkels an der Spitze der EU – und der Anführer, der Putin und seiner Expansionspolitik entgegentritt. Wenn Macron wiedergewählt wird, wäre das die klare Botschaft, daß Frankreich auch in den nächsten fünf Jahren eine Bastion der Demokratie sein will.
In Frankreich selbst bestimmt aber letztlich nicht die Außenpolitik, sondern der Zustand des Landes die Richtung maßgeblich. Man kennt zwar Le Pens alte Feindseligkeit gegenüber Einwanderern und insbesondere Muslimen.
Auf ihrer Wahlkampftour quer durch das Land machte sie allerdings die Wirtschaft zum zentralen Thema: eine ‚patriotische‘ Wirtschaftspolitik, die kleine Unternehmen und lokale Produzenten begünstigt, Unabhängigkeit von Ausländern, mehr Arbeitsplätze und niedrigere Preise!
Le Pen hat es aufgegeben, über den Austritt Frankreichs aus der EU zu sprechen – die selbstzerstörerische Natur des Brexit ist sogar selbst ihr klar. Das hat ihr geholfen, Mainstream-Wähler zu umwerben, unterstützt durch den noch weiter rechts stehenden Kandidaten Eric Zemmour, der zu ihrer scheinbaren neuen Vernunft beiträgt. Es ist davon auszugehen, daß ein großer Teil von Zemmours Wählern nun zu ihr überläuft.
Zudem bröckelt die parteienübergreifende Abwehrfront gegen Le Pen und deren Partei seit Jahren. Vor allem bei Wählern der Linken ist kein Verlaß mehr darauf, daß sie sich in der Stichwahl entschlossen hinter Macron stellen werden, um einen Sieg der Rechtsnationalistin zu verhindern. Zu tief sitzt bei einem Teil von ihnen die Abneigung gegen den als arrogant empfundenen Präsidenten.
Eine alte französische Erfahrung besagt: Die Wähler stimmen in Frankreich im ersten Wahlgang für den, den sie als Präsidenten haben wollen, im zweiten dann gegen den, den sie nicht haben wollen. Die erste Runde könnte als Volksabstimmung über Macron aufgefaßt werden und die zweite Runde als Volksabstimmung über Le Pen. Allerdings, ein Sieg Le Pens hätte schwerwiegende Folgen weit über Frankreich hinaus. Ihr Wahlsieg wäre ein Schlag ins Kontor der Europäischen Union – in einer Zeit, in der sich die Bündnisstaaten gerade mit ihren internationalen Partnern gegen Putins Invasion in der Ukraine zusammengeschlossen haben. Und viele Franzosen stören sich nicht an Le Pens engem Verhältnis zu Putin.
„Der Präsident der Reichen“
Le Pen hat sich schon Wochen vor dem Wahlkampf der politischen Mitte zugewandt und weist darauf hin, daß die Ungleichheit unter dem amtierenden Präsidenten nicht zurückgegangen ist. Tatsächlich hat Macron in diesem Punkt versagt, und vielen Franzosen gilt er als Präsident der Reichen. Aber Le Pen als Staatsoberhaupt wäre eine kaum berechenbare Herausforderung, für Frankreich und für Europa. Zwar hat sie ihre einstige Bewunderung für den russischen Präsidenten Putin seit der Invasion in der Ukraine zurückgeschraubt, aber sie ist immer noch zutiefst EU-skeptisch. Sie ist eine charismatische Protestfigur, die frustrierte Wähler anzieht.
Wer auch immer der nächste Präsident sein wird, er wird mit einem unzufriedenen und entfremdeten Land konfrontiert sein. Es ist unklar, ob es so überhaupt möglich sein wird, sinnvoll zu regieren. Wäre eine Präsidentin Le Pen in der Lage, eine glaubwürdige Regierung zu bilden? Viele derjenigen, die für sie stimmen, sind so unzufrieden, daß sie bereit sind, alles umzustürzen. Aber auch Macron könnte im Falle seiner Wiederwahl mit einer Rebellion des Volkes konfrontiert werden und mit einer geringen Aussicht auf eine parlamentarische Mehrheit, die ihn unterstützt.
Frankreichs Dilemma ist eine extreme Form der politischen Krankheit, die in der gesamten demokratischen Welt verbreitet ist: Ablehnung der etablierten Politik, geringere Loyalität und Mitgliedschaft in den Parteien, niedrige Wahlbeteiligung, unvorhersehbare und unbeständige Wahlentscheidungen. Dies hat bereits in mehreren Ländern Politikern, die in Opposition zur ‚Mainstream-Politik‘ stehen – oder dies zumindest behaupten –, eine Chance gegeben“ – was zumindest Macron eine Warnung sein sollte.
Der Präsident war wochenlang so gut wie unsichtbar, während Le Pen Märkte und Festsäle auf dem Land besuchte. Macrons Abwesenheit hat das Bild eines Präsidenten, der auf Frankreich herabschaut, noch verstärkt. Ein Bild, das Emmanuel Macron in der Arbeiterklasse sehr schadet. Bei ihr muß er jetzt um Stimmen werben; denn diese könnten den Unterschied zwischen ihm und Le Pen ausmachen.
Sollte Le Pen ein Überraschungssieg gelingen, könnte dies für Brüssel ein härterer Schlag sein als der Brexit. Denn Frankreich ist Mitglied der Eurozone und neben Deutschland traditionell der ‚Motor‘ der EU-Integration. Macron hatte im vergangenen Monat in den Umfragen zugelegt und sich nach dem Einmarsch Russlands in der Ukraine als Führer in Kriegszeiten stilisiert. Seitdem ist er jedoch in Wahlumfragen abgerutscht. Immer mehr Franzosen sind der Meinung, daß er zu viel Zeit auf diplomatische Gespräche mit Politikern andere Länder und mit der Koordination europäischer und anderer westlicher Verbündeter verwendet hat.
Ursprünglich wollte eigentlich Macron seine wirtschaftliche Bilanz in das Zentrum seiner Wahlkampagne stellen. Es sollte alles darum gehen aufzuzeigen, daß er es geschafft hat, die Arbeitslosigkeit zu reduzieren und die Kaufkraft der Leute zu erhöhen. Aber nun steht das Thema Ukraine natürlich über allem. Es hat alles durcheinandergewirbelt.
Das hatte sich Macron anders vorgestellt. Noch am Wahlabend des 7. Mai 2017 setzte er mit der Europahymne den Ton für seine damals vor ihm liegende fünfjährige Amtszeit: Überzeugter Europäer, entschlossener Reformer – das war das gewünschte Image, das er sich verpaßte, aber verfehlte. Trotz seines im Brustton tiefster Überzeugung vorgetragenen Versprechens:
„Ich werde in den fünf Jahren alles tun, damit es keine Gründe mehr gibt, für die Extremen zu stimmen.“
Die Kräfte am äußersten, politischen Rand, links wie rechts, blieben. Seine direkte Konkurrentin, Marine Le Pen von der Rechten, war zwar gerade mit 34 Prozent der Stimmen unterlegen, aber schon der erste Wahlgang hatte 2017 die tiefe Spaltung des Landes gezeigt. Weit über 40 Prozent der Stimmen gingen an extreme und populistische Kandidaten.
Ein paar Monate nach seinem Wahlsieg, im September 2017, hielt Emmanuel Macron eine vielbeachtete Rede vor der Sorbonne. Sein Fahrplan für Europa betraf die großen Bereiche wie Verteidigung, Außenpolitik, Digitales, Energie, Afrikapolitik – aber es ging auch um innenpolitische Hausaufgaben:
„Die Reform des Arbeitsmarktes, der Berufsausbildung, der Finanzierung der Wirtschaft werden es erlauben, Wachstum und Beschäftigung zu schaffen und das zu tun, was wir in unserem Land tun müssen.“
Macron betonte vorsichtshalber, daß seine Reformvorschläge für Europa nicht dazu dienten, interne, französische Probleme zu lösen:
“Wir führen Reformen durch, wir verändern unser Land, aber wir tun dies auch mit einer europäischen Zielsetzung. Ich habe keine roten Linien, ich habe nur Horizonte.“
Wo aber steht Frankreich ökonomisch jetzt, fünf Jahre später? Der Publizist Joseph de Weck schilderte in Paris, daß Macron zu Beginn vor allem aufs Tempo drückte:
„Die ersten zwei Jahre haben wir eigentlich eine richtige Reformoffensive gesehen, wie es sie seit Jahrzehnten in Frankreich nicht gab. Er hat in den ersten zwei Jahren mehr gemacht als seine drei Vorgänger zusammengerechnet. Er hat dies gemacht durch ein extrem hohes Tempo und weil er einfach die Macht wahnsinnig stark im Elysée konzentriert hat.“
Die ersten Reformen für Arbeitsmarkt, Steuern und Abgaben sind gegen teils massiven Widerstand vollzogen, als die Welt in die Pandemie gerät. Peter Buerstedde ist in Paris Direktor bei „Germany Trade and Invest“, der Außenwirtschaftsagentur der Bundesrepublik Deutschland, die Unternehmen unter anderem beim Auslandsgeschäft unterstützt.
„Frankreich ist kräftiger und schneller aus der Krise gekommen als viele andere große, europäische Staaten.“ Hilfreich ist, daß Lieferengpässe, die etwa Deutschland zu schaffen machen, Frankreich nicht so heftig treffen.
„Frankreich hängt in gewisser Weise stärker am Konsum, weniger am Export. Und der Konsum wurde kräftig gestützt von der Regierung in der Krise.“ (Buerstedde)
Auch in Frankreich nimmt die Regierung zur Bekämpfung der Pandemiefolgen viel Geld in die Hand: „Was bei diesen Zahlen einen große Rolle spielt, sind die Krisenprogramme, wo massiv Investitionen in der Industrie gefördert wurden, unter dem aufgeweichten Beihilfeschirm der EU….“
Einerseits, so der Ökonom, sei das hilfreich. Aber ist es auch nachhaltig? Hohe Summen in Absatzförderung und Kurzarbeitergeld oder in Programme zur beruflichen Bildung zu stecken, mag zwar in der Not helfen, auf Dauer aber verpufft ein Teil der Effekte wieder. Auch Buerstedde ist skeptisch: „Das bewahrt sicherlich Arbeitsplätze, das stärkt die Industrie, das holt in gewisser Weise auch diesen Investitionsrückstau etwas auf, aber das ist nicht wirklich eine Reindustrialisierung des Landes, ich sehe da keine nachhaltige Wende.“
Vielleicht, so räumt der Ökonom ein, seien die Früchte der Reformen noch nicht gänzlich sichtbar, manches brauche eben Zeit. Der junge Präsident setzte also manches in Gang, aber es gibt die deutlichen Schattenseiten – die hohe Staatsquote von rund 60 Prozent etwa und die hohe Verschuldung von deutlich über 100 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Pandemie und Kriegsfolgen verstärken diese negativen Eckwerte nochmals. Eine Bürde für Frankreichs Zukunft. Dennoch gibt es vor allem für Macrons Krisenmanagement Lob. Buerstedde sieht im Wiederaufbauplan mit dem Namen „France Relance“ und im Investitionsprogramm „Frankreich 2030“ keine Eintagsfliegen.
„In beiden dieser Programme finden sich eben neben notwendigen Hilfen für Unternehmen und Beschäftigte eben auch Reformen und insofern hat Macron auch in der Krise versucht, seinen Reformkurs beizubehalten.“
Professor Henrik Uterwedde, Wissenschaftler am Deutsch-Französischen Institut in Ludwigsburg, nennt das den „transformatorischen Anspruch“ der Macron‘schen Krisenpolitik. Die europäischen Rettungspakete und die nationalen Reformpläne wurden inhaltlich und zeitlich koordiniert: „Frankreich hat ja durchaus auch Probleme mit seinen öffentlichen Finanzen und war insofern auch darauf angewiesen, daß hier die Finanzierung dieser doch zig Milliarden schweren Programme gewährleistet ist. Und hier hat Frankreich mit seinem Aufbauprogramm „France Relance“ solange gewartet, bis klar war, was in Brüssel entschieden und was auch gefördert wird.“
„France Relance“ umfaßt 100 Milliarden Euro, 40 Milliarden davon kommen aus Brüssel. Ein Teil der angestoßenen Reformen im Steuer- und Bildungssektor werden aus diesen 100 Milliarden gespeist, 30 Milliarden sollen in den ökologischen Wandel fließen, darunter Wasserstoff-Förderung, Agrarwende, Kaufprämien für Elektroautos, Ausbau regionaler Bahnstrecken , Geld für die Regionen. Im Programm Frankreich 2030 dann geht es um die Förderung von erneuerbaren Energien, aber auch um Geld für die Entwicklung neuer Nuklearreaktoren.
Bildung, Steuern, Arbeitsrecht – weder links, noch rechts
Angetreten war Emmanuel Macron 2017 mit dem Slogan, seine Politik sei „weder links noch rechts“. Der Publizist Joseph de Weck nennt seine Wirtschaftspolitik „orthodox“ und sagt, sie könnte als „Checkliste der Empfehlungen des Internationalen Währungsfonds durchgehen“. Und doch gebe es kein klares Label: „Seine Wirtschaftspolitik beinhaltet neoliberale Elemente, zum Beispiel in der Steuerpolitik. Sie enthält aber auch sozialdemokratische Elemente, er hat zum Beispiel den Mindestlohn oder auch die Mindestrente stärker angehoben als in den Präsidentschaften von Francois Hollande, seinem sozialistischen Vorgänger, und Nicolas Sarkozy zusammengerechnet. Er hat auf Liberalisierungsschritte gesetzt, den Arbeitsmarkt stark liberalisiert, was ihm jetzt zugutekommt.“
Die Arbeitsmarktreform gehört zu den frühen Reformen in der Amtszeit Macrons
Die Unternehmen sollten von mehr Flexibilität profitieren, im Falle einer Kündigung erhalten Arbeitgeber nun mehr Klarheit über denkbare Abfindungen und Kosten der Kündigung. Ein wichtiger Schritt, sagt der Ökonom Peter Buerstedde: „Ein großes Thema – weil davor war es so, daß für die Unternehmen eine große Unsicherheit bestand. Wenn man jemandem einen permanenten Arbeitsplatz anbot, konnte man nicht sicher sein, wie viel man im Falle einer Trennung, wie viel Abfindung man hätte zahlen müssen.“
Die Steuern werden umgekrempelt, aus der allgemeinen, breiten Vermögensteuer wurde eine Immobiliensteuer, auf Kapitalerträge gibt es eine Art Flattax, eine Einheitssteuer: „Zwei Reformen, die sicherlich ein wichtiges Signal waren für Investoren, aber sicherlich einer Schicht zugutekamen, die eher vermögend war – eine sehr kontroverse Reform.“
Dazu die Absenkung der Unternehmensteuer in Stufen und vor allem die Entlastung von der Produktionssteuer. Vor dieser Reform war die Steuer auch dann fällig, wenn keine oder geringe Gewinne gemacht wurden. Ein echter Wettbewerbsnachteil, klagten die Arbeitgeberverbände schon lange, und entsprechend begrüßten sie nun die Absenkung auch dieser Steuer. Entgegenkommen für die Unternehmen auch in Sachen beruflicher Bildung: Das deutsche System der dualen Ausbildung wird in Frankreich traditionell gelobt, Emmanuel Macron geht einen Schritt in diese Richtung.
Aber auch für die privaten Haushalte sah Macron Entlastungen vor, neben der Anhebung von Mindestrente und Mindestlohn soll die Wohnsteuer schrittweise abgeschafft werden, eine Steuer, die bis dahin auf jeden Hauptwohnsitz zu zahlen war.
Dennoch hagelte es Kritik für Macrons Politik. Schon im Herbst 2017 geht es los, heftige Proteste gegen die Arbeitsmarktreform, ab Frühjahr 2018 dann Streiks der Bahnarbeiter, das Land stand praktisch still. Und dann gab es plötzlich die Männer und Frauen in gelben Warnwesten, überall im Land – die erste, ernsthafte politische Krise für Macron, die den neuen Präsidenten Macron ein auf dem falschen Fuß erwischt hat.
Vordergründig entzündeten sich die Gelbwesten-Proteste 2018 an der geplanten Anhebung der Sprit- und vor allem der Dieselpreise und am vorgesehen Tempolimit auf den Landstraßen.
Und beide Maßnahmen, die sozusagen in der Pariser Blase ausgeheckt worden sind, um auf den Klimawandel zu reagieren, haben überhaupt nicht berücksichtigt, was das bedeutet in der Realität für Menschen, die etwa auf dem flachen Land in Frankreich leben, wo der nächste Arbeitsplatz 40, 50 oder 100 Kilometer entfernt ist, wo auch das nächste Krankenhaus oder auch ärztliche Versorgung und anderes weit entfern ist, Leute, die oft einen Job haben, aber nicht besonders gut verdienen, die sind angewiesen auf das Auto, und hier war das der berühmte Tropfen, der das Faß zum Überlaufen brachte.
Macron wurde Arroganz attestiert, das Bild vom einsamen „Jupiter“, der im Elysée-Palast in Paris die Fäden zieht, verfestigte sich. Der Präsident zahlte Lehrgeld und ruderte zwangsweise bei einigen Vorhaben zurück. Am 10. Dezember 2018 wendet sich der Staatspräsident an die Protestierenden auf den Verkehrsinseln im ganzen Land:
„Da ist das arbeitende Paar, das früh aufstehen muss, um weit zur Arbeit zu fahren und spät heimkehrt, da ist die alleinstehende Frau, Mutter, Witwe, die nicht die Mittel hat, die Kinder betreuen zu lassen, bei der es nicht bis ans Monatsende reicht, die ohne Hoffnung ist, ich habe all die Frauen gesehen, die erstmals ihrer Hilflosigkeit Luft machten, auf all den Kreisverkehrs-Inseln.“
Mittellose Rentner, die Schwächsten der Gesellschaft, fehlende öffentliche Infrastruktur in den ländlicheren Gebieten, der demokratische Niedergang – er sehe das alles, so Macron. Hier zeigten sich 40 Jahre Not, hier spielte der Präsident auf den Reformstau in Frankreich an.
Die Gelbwesten stellten ungezählte Einzelforderungen, aber eine ist zentral: die Forderung nach dem Rücktritt des Präsidenten. Die politische Linke spitzte es in dem Vorwurf zu, Macron sei wirtschaftsliberal, als ehemaliger Banker mehr Kapitalist als Menschenfreund.
Im Mai 2020 verlor er die absolute Mehrheit im Parlament, seine Bewegung „En Marche“ zeigte deutliche Risse. Auch hier wieder, und diesmal aus den eigenen Reihen, der Vorwurf: Soziale Unausgewogenheit der Reformen, zu wenig Abstimmung mit Sozialpartnern, mit Verbänden, den regionalen und lokalen Vertretern.
Der Russland-Krieg gegen die Ukraine verschaffte Macron wieder etwas Luft. Macrons Umfragewerte stiegen wieder, der Bonus des Krisenmanagers wird spürbar. Aber der Effekt hielt nicht lange an. Zwar ist Frankreich deutlich weniger abhängig von russischer Energie. Und doch trifft der Krieg Frankreich an einer besonders empfindlichen Stelle, dem Konsum, die Kaufkraft-Sorge ist wieder da – ein Thema, das bei Macron (noch) keine Rolle spielte, aber seine Gegnerin elektrisierte:
Die schärfste Konkurrentin von Macron, Marine Le Pen, hatte dieses Thema sehr früh besetzt, und sehr stark darauf abgehoben, sie wolle dafür sorgen, daß die Menschen sichere und genügend Einkommen haben, um ihr Leben finanzieren zu können. Macron hat dieses Thema erst zu spät aufgenommen.
Le Pen und Deutschland – „Scheidung“ oder neue Herausforderung
Le Pen will das deutsch-französische Verhältnis neu definieren: In einem Interview mit der Tageszeitung “L’Opinion” kündigte sie an, die „Scheidung” zu wollen und stattdessen lieber den Schulterschluß mit Großbritannien zu suchen. Konkret plant sie unter anderem, die Zusammenarbeit bei gemeinsamen Verteidigungsprojekten wie dem Kampfflugzeugsystem “Future Combat Air System” aufzukündigen.
Die Wahl von Le Pen zur Präsidentin würde das gesamte europäische Projekt ins Wanken bringen; denn das deutsch-französische Tandem war (bei allen Meinungsverschiedenheiten, die es gab) für den Zusammenhalt der EU stets entscheidend.
Auch außenpolitisch würde die EU in unruhige Fahrwasser geraten. Marine Le Pen ist als Russlandfreundin bekannt. Unterstützung würde sie dabei vom frisch wiedergewählten ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán bekommen. Das würde die EU nicht nur weiter spalten – die transatlantischen Beziehungen dürften ebenfalls schweren Schaden nehmen.
Und nicht zuletzt würde Le Pens Erfolg auch die rechten Kräfte in allen anderen europäischen Ländern stärken. So gratulierte Marine Le Pen der AfD nach der Bundestagswahl 2017 umgehend zu ihrem „historischen Wahlergebnis“ und feierte dies als „neues Symbol des Erwachens der europäischen Völker“.
Zwei Lehren sollten wir in Deutschland aus der Franzosenwahl ziehen dürfen:
- „It’s the economy, stupid!“ Dieser legendäre Wahlkampfspruch von Bill Clinton aus dem Jahr 1992 trifft auch auf Frankreich zu und trifft auch Deutschland. Merke: Wer die Sorgen der Geringverdiener nicht berücksichtigt, treibt sie in die Arme der Wettbewerber.
- Wer „rechts“ links liegen läßt und deren Themen nicht beachtet, mißachtet den Willen vieler Wähler. Der Erfolg von Marine Le Pen liegt auch darin, daß sich die Franzosen an ihre Themen gewöhnt haben.
Fazit:
In Zeiten extremer geopolitischer Spannungen ist jedes Zeichen von Stabilität willkommen, aber dazu waren die französischen Wähler beim ersten Durchgang der Präsidentschaftswahlen nicht in der Lage – ganz im Gegenteil. Gewiß, Amtsinhaber Macron liegt mit über 27 Prozent der Stimmen vier Punkte vor der rechtsnationalen Marine Le Pen, aber ein überzeugender Sieg sieht anders aus.
Jeder dritte Franzose hat sein Stimmrecht nicht genutzt, und das macht den zweiten Durchgang am 24. April noch ungewisser. Besonders bemerkenswert ist die starke Position der Extreme. Die Kandidaten von Rechts- und Linksaußen kamen zusammen auf mehr als die Hälfte aller Stimmen, und es wäre naiv, einen Sieg von Le Pen auszuschließen.
www.conservo.blog 21.04.2022
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